Der Inselpolizist machte einen großen Bogen, ging am Hotel »Fresena« links ab durch das Deichschart und an der evangelischen Kirche vorbei. Er wollte wissen, ob die Turmfalken im Kirchturm ihr Nest gebaut hatten. Tatsächlich, da saßen die beiden Elterntiere in der Nische. Zu Hause angekommen, verbannte er Amir in sein Körbchen in die Küche, dann fuhr er los zum Hotel »Sonnenstrand«.
Henning Ahlers stand auf der Terrasse und wischte die Stühle ab. »Da haben sich doch wieder die Möwen verewigt«, begrüßte er den Polizisten.
»Tja«, lachte Röder, »immer Ärger mit der Natur. Schrecklich.«
»Was führt dich zu mir? Doch nicht etwa die gefundenen Knochen?«
»Doch. Es kommen gleich zwei Kommissare, und wir brauchen zwei Zimmer. Die Dienstwohnung ist belegt. Da wohnt Anika Frederik, meine Kollegin«, erklärte Röder.
»Dann komm mal mit rein. Ich wollte sowieso mit Birgit ein Tässchen Tee trinken. Wenn du also möchtest …«
»Gerne.« Röder würde nur im Notfall einen Nachmittagstee bei Familie Ahlers ausschlagen.
In der kleinen Küche war es gemütlich wie immer. Birgit stellte die Tassen auf den Tisch, dazu Kluntjes und Sahne, ganz so, wie der Ostfriese seinen Tee liebte. Auch ein paar Butterkekse fehlten nicht. Röder hatte das Gefühl, als ob die Außenwelt keinerlei Zutritt hatte. Es war einfach nur gemütlich auf dem alten Ostfriesensofa. Aus der großen Hotelküche kam hin und wieder das Scheppern von Töpfen, aber selbst das störte nicht.
»So, sag schon! Warum bekommst du Verstärkung?«, fragte Henning gespannt. »Du weißt doch, als Mitglied der Feuerwehr bin ich zum Stillschweigen verpflichtet.«
»Und ich als seine Ehefrau natürlich auch«, fügte Birgit lachend hinzu.
»Ganz ehrlich – ich habe keine Ahnung. Die haben wohl etwas herausgefunden, aber was genau, das wollen die beiden Kollegen mir nach ihrer Ankunft mitteilen. Es kommt ein Kommissar aus Bremen, Herbert Pankok, und jemand aus Aurich, der sich hier wohl auskennt. Leider hatte mein Chef nicht genügend Zeit, mir zu sagen, wer der Glückliche ist.«
»Na gut, dann warten wir mal ab. Die Zimmer sind bereit, und wenn ihr den Clubraum braucht – nur zu. Erst in der nächsten Woche kommt der Doppelkopfclub. Bis dahin solltet ihr mit euren Ermittlungen durch sein«, sagte der Hotelchef.
»Du hast zurzeit weibliche Hilfe? Wenn ja, wo steckt sie denn?«, fragte Birgit.
»Im Ostdorf. Ein Junge war nicht in der Schule erschienen, da gibt es wohl einige Probleme«, gab Röder Auskunft. Mehr würde er nicht sagen. Das mussten die beiden nicht wissen.
»Ach, es geht um Wilko? Der wohnt mit seiner Familie doch in dem Haus mit den drei Eigentumswohnungen hinterm Deich, nicht wahr? Da, wo auch der schwule Koch wohnt«, sagte Henning.
Birgit schaute ihren Mann wütend an. »Es ist doch völlig egal, was für eine sexuelle Präferenz jemand hat.« Sie wandte sich an Röder. »Neulich wollte der Redakteur einer Tageszeitung von uns wissen, ob wir in einer Anzeige auf der Suche nach einem Hausmeister m, w, und auch d setzen wollten. Ich wusste überhaupt nicht, was der meinte, und habe ihn gefragt, ob damit deutsch gemeint sei. Nein, divers, hat der geantwortet. Ich war verblüfft, das kannst du dir denken. Mir ist es wichtig, dass die Person ihre Aufgaben vernünftig erfüllt, nicht, mit wem sie ins Bett steigt!«
»Beruhige dich, mir geht es genauso. Es ist mir nur rausgerutscht, weil der vor einigen Jahren mal in einigen Häusern Kochkurse angeboten hat. Unser Koch hat ebenfalls teilgenommen. Quasi zur Weiterbildung, aber der Diesterweg hat ihn wohl nach dem vierten Bier ein wenig angebaggert«, erzählte Henning.
»Kann ich deinen Koch mal sprechen?«, fragte Röder.
»Leider hat er letzten Herbst aufgehört. Seine Frau mochte hier nicht sein. Die sind zum Festland zurück«, erklärte Birgit.
»Aber seine Telefonnummer hast du bei Bedarf?«
Henning nickte.
»Aber woher wusstest du von Wilko?« Diese Frage interessierte den Inselpolizisten brennend.
»Weil heute die fünfte Klasse der Feuerwehr einen Besuch abgestattet hat. Ich habe die Kinder herumgeführt. Zu Beginn habe ich das gefragt, was der Kasper auch immer fragt, nämlich: Seid ihr alle da? Und eines der Kinder sagte: ›Alle bis auf Wilko.‹ Das ist die Auflösung des Rätsels.«
»Also, wenn ihr eh schon alles wisst – ja, der Junge war mit Diesterweg in der Verlandungszone, Queller pflücken. Und der Vater, Hans Jessen, war darüber stinkesauer, weil Diesterweg angeblich eine Nonnengans zum eigenen Verzehr getötet hat. Anika ist hin, um die Wogen zu glätten.«
»Ich glaube, in diesem Haus ist sowieso kein gutes Klima«, ergänzte Birgit. »Ilona Klinker hat dort auch eine Wohnung, und die Frau kann ganz schön rabiat werden, wenn etwas gegen ihre Mütze läuft. Die hatten im Februar Eigentümerversammlung bei uns im Clubraum. Da ging echt die Post ab.«
»Hast du gehört, worum es da ging?«
»Nicht wirklich«, meinte Henning. »Nur einmal, als ich frische Getränke brachte, schlug die Klinker mit der Faust auf den Tisch und rief: ›Ich will den Rest auch kaufen, damit endlich Ruhe ist in diesem Haus.‹«
Röder stand auf. »Danke für den Tee und die Neuigkeit. Ich muss los.«
»Bis später. Wir sind gespannt, wen du uns mitbringst«, sagte Birgit zum Abschied.
»Ich auch«, erwiderte Röder. Wobei es eigentlich egal war, ob Gero oder Marvin dabei sein würde. Er kam mit beiden gut aus.
Als er den Hafen erreichte, legte das Schiff gerade an. Der Landgang wurde ausgefahren, und die ersten Gäste kamen von Bord. Und mitten zwischen den vielen Gesichtern sah er eines, was ihm nur zu bekannt vorkam. Das gab es nicht. Das konnte nicht sein. »Was machst du denn hier?«
Arndt Kleemann lachte ihn übermütig an. »Darf ich mich vorstellen: Ich bin neuerdings ermittelnder Beamter der Polizeiinspektion Aurich/Wittmund.«
Röder wollte antworten, doch die Stimme versagte. Stattdessen nahm er seinen Freund in den Arm, bis er merkte, wie jemand an seiner Dienstjacke zupfte.
»Mein Name ist Herbert Pankok. Und wer hat mich lieb?«
8
»Na, haben Sie sich den Mann schon vorgenommen?« Hans Jessen stand am offenen Fenster und schaute Anika zu, wie sie verzweifelt versuchte, ihr Fahrrad abzuschließen. »Das müssen Sie nicht. Hier wird kein Rad geklaut. Schon gar kein Polizeidienstrad.«
Dienstrad? Sie blickte auf das Gestänge, doch nirgendwo konnte sie einen Hinweis darauf entdecken, dass man es als polizeieigen hätte erkennen können. Und wenn, würde es einen eifrigen Dieb auch nicht von seiner Tat abhalten. »Haben Sie Zeit?«
»Ich habe. Allerdings ist alles gesagt, oder?«
Anika Frederik antwortete nicht, sondern ging ins Haus und fragte sich, ob der Mann tatsächlich die Wohnungstür öffnete.
Doch er erwartete sie bereits im Flur. »Wollen Sie reinkommen?«
»Sind Ihre Kinder da?«, fragte sie.
»Ja, Meta liegt im Bett und Wilko sitzt an seinen Hausaufgaben. Ich habe sie mir telefonisch geben lassen. Wäre ja noch schöner, wenn er ohne sie durchkommen würde, wenn er schon nicht am Unterricht teilnimmt.«
»Darf ich mit ihm reden?«
Jessen zögerte. »Ich habe bereits alles versucht, ihn zum Reden zu bringen, aber er schweigt.«
»Alles?«, erwiderte Anika scharf.
»Ich habe keine Gewalt angewendet. Ist nicht mein Stil. Zumindest nicht bei Kindern. Kann ich ruhig sagen. Meine Akte kennen Sie sicher.«
Nein, die kannte Anika nicht. Röder hatte sie bisher nicht erwähnt.
»Also,