»Ich weiß, was du vorhattest«, sagte ihre Yiayia vorwurfsvoll. »Dachtest du denn ernsthaft, du könntest mir etwas vormachen?« Sie klang verletzt.
Olivera spürte Scham in sich aufsteigen. Am liebsten hätte sie sich in einem Mauseloch verkrochen und wäre nie wieder daraus hervorgekommen.
»Einen Hysterike-Anfall vorzutäuschen!« Die alte Frau schnaubte und erhob sich. »Was soll ich deinem Vater sagen?«, fragte sie, während sie ihre Röcke glatt strich. »Dass seine Tochter sofort verheiratet werden muss, weil ihr Uterus sonst austrocknet? Denkst du im Ernst, dass du ihn so dazu zwingen kannst, deinem Willen nachzugeben?«
Olivera schwieg, da genau dies ihr Ziel gewesen war.
»Hatte ich dir nicht gesagt, dass du dich gedulden sollst?« Ihre Yiayia trat ans Fenster und sah einige Zeit schweigend in die Ferne. Dann stieß sie hervor: »Das war unglaublich töricht von dir!« Sie fuhr sich mit der Hand über das silberne Haar. »Du hättest dich ernsthaft verletzen können.«
Olivera spürte Tränen in sich aufsteigen. »Yiayia«, bat sie kleinlaut. »Bitte schimpfe nicht.« Ihre Lippen bebten. »Du musst mir helfen!« Sie schob sich in eine sitzende Position. Augenblicklich wurde ihr schwindelig und sie hielt sich den Kopf – als könne sie so verhindern, dass der Raum sich weiter um sie drehte. »Yiayia«, wiederholte sie, sobald sich die Benommenheit etwas gelegt hatte. »Bitte!« Sie krallte die Finger in die Decke und wickelte diese um sich. »Ich kann mich doch nicht gedulden«, flüsterte sie.
»Warum kannst du dich nicht gedulden?«, fragte die alte Frau. Sie kehrt dem Fenster den Rücken und trat zurück an das Bett.
»Weil es schon bald zu spät ist«, murmelte Olivera.
Ihre Großmutter legte die Stirn in Falten, dann trat Verstehen in ihren Blick. »Der Vogel«, sagte sie. »Ich hätte es mir denken können.« Sie ließ sich wieder auf der Bettkante nieder.
Olivera griff nach ihrer Hand und betrachtete einige Atemzüge lang die dunklen Flecken auf der faltigen Haut. »Ich liebe ihn so sehr!«, hauchte sie schließlich. Und dann sprudelte alles aus ihr hervor: die lang gehegte Sehnsucht nach Laurenz’ Rückkehr; die Freude und Aufregung, als ihr Wunsch endlich erhört worden war; der Besuch des Marktes und das Gefühl der Leere, als er sie im Hof allein gelassen hatte. »Bitte, Yiayia«, flehte sie erneut und drückte die Hand ihrer Großmutter so fest, dass diese mit einem Keuchen protestierte. »Bitte!« Oliveras Stimme klang heiser. »Wenn ich ihn nicht heiraten kann, dann will ich keinen!« Ihr Blick suchte den der alten Frau.
Diese betrachtete ihre Enkelin einige Momente lang forschend, ehe sie einen tiefen Seufzer ausstieß. »Ist dir klar, was es bedeutet, wenn du seine Gemahlin wirst?«, fragte sie schließlich.
Olivera nickte eifrig. »Ja«, erwiderte sie.
»Er wird dich mit in die Fremde nehmen.« Ihre Yiayia hob warnend den Zeigefinger. »Du wirst weit, weit fort sein von allen, die dich lieben. Die Reise birgt viele Gefahren und du wirst deinen Vater und deine Brüder vielleicht niemals wiedersehen.« Sie befreite sich vom Griff ihrer Enkelin und strich ihr sanft über die Wange. »Und mich auch nicht«, fügte sie hinzu.
Die Tränen, die Olivera so tapfer zurückgehalten hatte, brachten ihre Augen erneut zum Schwimmen. »Ich weiß, Yiayia«, sagte sie erstickt. »Aber ich liebe ihn mehr als alles andere auf der Welt. Wenn ich ohne ihn leben muss, will ich lieber gar nicht mehr leben!« Die Vorstellung, Laurenz nie wiederzusehen, ihn ziehen zu lassen und für immer zu verlieren, war wie ein Dolch, der ihr das Herz aus der Brust schnitt. Ein Schluchzen raubte ihr die Stimme.
»Es ist eine Sünde, so zu reden«, schalt ihre Großmutter lahm. Doch dann zog sie ihre Enkelin an sich und presste das tränennasse Gesicht der jungen Frau an ihre Brust.
Als Oliveras Weinen nach beinahe zehn Minuten endlich abebbte, trocknete sie ihr die Wangen. »Du solltest noch ein wenig schlafen«, versetzte sie bedrückt. »Der Schlaf reinigt die Seele.«
Obgleich Olivera vom Weinen erschöpft war, griff sie erneut nach der Hand ihrer Großmutter. »Versprich mir, dass du mir hilfst«, flehte sie. »Versprich es mir.« Die Hoffnung, dass alles gut sein würde, wenn sie wieder erwachte, war wie eine süße Droge.
Eine scheinbare Ewigkeit verstrich, ohne dass die alte Frau etwas sagte. Dann ließ sie vernehmbar die Luft durch die Nase entweichen und entgegnete: »Ich verspreche, dass ich mit deinem Vater reden werde. Mehr kann ich dir nicht versprechen. Und jetzt schlaf und sammle Kräfte. Wenn du wirklich die Frau dieses Laurenz werden willst, wirst du schon bald zu einer sehr anstrengenden Reise aufbrechen.« Trauer schwang in ihren Worten mit.
Olivera spürte den Stachel der Reue. Dieser verlor jedoch an Schärfe, als ihre Yiayia sich erhob und Anstalten machte, die Kammer zu verlassen. Vielleicht würde ihr sehnlichster Wunsch schon bald in Erfüllung gehen!
*
Als ihre Yiayia am nächsten Tag zu ihr kam, um ihre Wunde zu versorgen, schüttelte sie den Kopf, bevor Olivera in sie dringen konnte.
»Ich habe ihn noch nicht gesprochen. Er ist sehr beschäftigt.«
Es kostete Olivera einige Mühe, ihre Enttäuschung zu schlucken. Doch ein Blick in die Augen ihrer Großmutter sagte ihr, dass diese ihr Versprechen nicht vergessen würde. Behutsam half die alte Frau Olivera, sich aufzusetzen und etwas zu essen. Dann trug sie eine kühlende Salbe auf den Hinterkopf ihrer Enkelin auf und bettete diese wieder in den Kissen. Eine Zeitlang saß sie schweigend auf der Bettkante, während Olivera ihre Hand hielt und gegen die überwältigende Müdigkeit ankämpfte. Es ist wie früher, dachte sie, während der Daumen ihrer Großmutter immer und immer wieder über ihren Handrücken strich. Die Geborgenheit, die sie allein durch die Gegenwart ihrer Yiayia empfand, sorgte dafür, dass sie sich unvermittelt in ihre Kindheit zurückversetzt fühlte; zu dem Tag, an dem ihre Mamá zu Gott gegangen war. Damals hatte sie nicht begreifen können, warum es nicht mehr ihre Mutter war, die sie abends zu Bett brachte. Aber irgendwann hatte sie aufgehört, sich in den Schlaf zu weinen und ihre Yiayia war an die Stelle der Frau getreten, an die sie sich kaum mehr erinnern konnte. Eine Weile ließ sie sich treiben und versuchte, in Gedanken zu längst vergessenen Tagen zurückzukehren.
»Hast du Pappous geliebt, Yiayia?«, fragte sie plötzlich. Sie wusste nicht, wo die Frage herkam, nur dass sie ihr auf einmal durch den Kopf schoss.
Ihre Großmutter wandte den Kopf und blickte versonnen auf sie hinab. »Ja«, gab sie nach einigen Momenten zurück. »Auf eine Art habe ich ihn geliebt.«
Olivera runzelte die Stirn. Was meinte ihre Yiayia damit? Konnte man einen Mann anders lieben, als sie Laurenz liebte?
»Wir waren einander seit unserer Kindheit versprochen«, fuhr ihre Großmutter fort. »Als ich mit ihm vor dem Altar stand, wusste ich nicht, was ich für ihn empfinden sollte.« Sie lächelte schwach. »Er war kein einfacher Mann. Aber irgendwann habe ich wohl angefangen, ihn zu lieben.«
»Wie wusstest du, dass er dich auch liebt?«, fragte Olivera.
»Das wusste ich erst, als er in meinen Armen gestorben ist«, war die rätselhafte Antwort. Die alte Griechin erhob sich und drückte Olivera einen Kuss auf die Handfläche. »Ich liebe dich, Kind. Du bist wie eine Tochter für mich.« Sie strich Olivera eine Strähne aus dem Gesicht. »Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du glücklich wirst.«
Oliveras Augen füllten sich mit Tränen.
»Schlaf noch etwas«, sagte ihre Yiayia. »Ich sehe später noch einmal nach dir.« Mit diesen Worten ließ sie ihre Enkelin allein und verließ leise die Kammer.
Kapitel 10
Konstantinopel, Juli 1408
Vier Tage später war Olivera wieder auf den Beinen.