Norma stieg die beiden Stufen hinauf und drückte die Ladentür auf. Die englische Glocke, ein Mitbringsel einer gemeinsamen Urlaubsreise, bimmelte hell und fröhlich. Arthur hatte den Eingangsbereich umdekoriert, wie sie mit einem flüchtigen Blick erfasste. Die schlichte Eleganz des Art déco war zurzeit offenbar gefragter als Biedermeier und Historismus. Dazwischen ein Freischwingersessel: aus stumpfem Stahlrohr der Rahmen, die Sitzfläche mit blutrotem Gewebe bespannt. Ein Bauhaus-Möbel. Von Marcel Breuer womöglich? Auf jeden Fall könnte der Sessel wunderbar in Bruno Taschenmachers neues Restaurant passen. Verkauft stand in roten Buchstaben quer über dem Preisschild. Vielleicht hatte Bruno schon zugegriffen? Arthurs engster Freund seit der Schulzeit steckte seit Wochen mitten in den Planungen für ein exklusives Restaurant, das er in einer vom Bauhaus-Architekten Marcel Breuer geplanten Wiesbadener Villa einrichten wollte.
Die Entdeckung oder besser gesagt, Wiederentdeckung der Bauhaus-Villa war eine kleine Wiesbadener Sensation. Dem Architekten Moritz Fischer verdankte die Stadt, dass sie seit Kurzem mit dieser weiteren städtebaulichen Kostbarkeit aufwarten konnte. Die ›Villa Stella‹ reihte sich damit in eine bemerkenswerte Auswahl von Villen und Wohnhäusern des 20. Jahrhunderts, mit denen Wiesbaden glänzen konnte. Die ›Villa Stella‹ stammte aus den 30er-Jahren. In ihrer Bedeutung vergessen und von Anbauten verschandelt, rottete sie vor sich hin, bis sich sieben Jahrzehnte später Moritz Fischer der verwahrlosten Schönheit annahm. Er sammelte Gelder und mobilisierte Sponsoren, unter denen sich seine Jugendfreunde Arthur und Bruno als Wortführer hervortaten, und verwandelte die Ruine zu einem Schmuckstück. Bis es soweit war, vergingen Jahre. Ein langwieriger Prozess. Baumängel brachten die Sanierungen immer wieder ins Stocken. Zusätzlich sorgte die Diskrepanz zwischen Fischers Ideen und den Vorstellungen der Denkmalschützer für unvorhersehbare Verzögerungen.
Nun, zum Ende des Sommers, war das Gebäude bezugsfertig. Erblüht in einer nüchternen Ästhetik, die Norma eigenartig berührte. Die Stadt und Fachwelt huldigten Moritz Fischer als Experten, der das Geheimnis der Villa oberhalb der Sonnenberger Straße aufdecken konnte.
Fischer sonnte sich in der Anerkennung und ließ sich als Retter eines Baudenkmals feiern. Nach Normas Geschmack gewann er dadurch nicht an Sympathie. Moritz Fischer war und blieb ein Großmaul und Aufschneider. Arthur machte mit ihm gemeinsam beste Geschäfte, und Bruno Taschenmacher durfte dieses Mal mit von der Partie sein. Er wollte die ›Villa Stella› für das Restaurant pachten, das Arthur im Stil der 20er-Jahre einrichten sollte. Bruno war der geeignete Mann für ein Restaurant der gehobenen Klasse. Er besaß bereits eine Weinstube in der Altstadt und das Restaurant ›Parkhof‹ beim Kurpark. Seitdem kaufte Arthur auf Brunos Rechnung jedes Objekt, das auf irgendeine Weise mit der Bauhauszeit in Verbindung stand. Bruno sagte zu allem ja und Amen. Gäbe es noch Herrscher und Vasallen, Ritter Bruno wäre König Arthurs ergebenster Gefolgsmann. Bruno hatte sich von der Begeisterung der Freunde anstecken lassen und war Feuer und Flamme für das ›Marcel B.‹ Und er hatte für Pläne und Ausstattung inzwischen einen Batzen Geld ausgegeben, wie Norma von Arthur wusste.
An der Wand über dem Freischwinger hing, in lichtem Ocker und sattem Umbra, ein abstraktes Ölgemälde, das sich, obwohl kein Jahr alt, unbekümmert in das von Antiquitäten beherrschte Umfeld einfügte. Ein weiteres Werk von Pablo Lobo; der kraftvolle Pinselstrich des Kolumbianers war ebenso charakteristisch wie seine Vorliebe für erdige Farbtöne. Pablo war ein Naturkind, eine ungeschulte Begabung. Arthur bewunderte den jungen Maler, dessen Persönlichkeit wie die Arbeiten, und setzte alles daran, Pablo Lobo in Deutschland und Europa berühmt zu machen. Norma gönnte dem Bild keinen zweiten Blick. Sie wich allem aus, das an Kolumbien erinnerte.
Lieber atmete sie diesen betörenden Duft ein, der dem Ausstellungsraum eigen war. Eine unnachahmliche Verbindung von Möbelpolituren, ätherischen Holzölen und uraltem Staub, der auch Arthur anzuhaften schien und – wie sie bisweilen vermutete – der Auslöser ihrer Liebe zu einem Kunsthistoriker war. Der Geruch weckte auch die Erinnerung an ihren Vater, der sich als leidenschaftlicher Hobbyrestaurator in jeder freien Minute der Möbel angenommen hatte, die sich im Wechsel der Generationen auf einem niedersächsischen Bauernhof einfanden. Er starb, als Norma acht Jahre alt war. Als sie Arthur zum ersten Mal begegnete, war sie kurz zuvor von Bremen nach Wiesbaden versetzt worden. Während einer Fortbildung beim Bundeskriminalamt hatte sie die Stadt kennen und schätzen gelernt und durch eine glückliche Fügung die Stelle im Wiesbadener Kommissariat erhalten. Arthur war Zeuge in einem Kunstdiebstahl. Zwischen ihm und Jan Petersen, der der Grund dafür war, dass sie so dringend aus Bremen fort wollte, lagen Welten, und sie erhoffte sich von Arthur die Ausgeglichenheit und Beständigkeit, die Jan ihr nicht hatte geben können. Irgendwann wurde ihr klar, dass Arthurs vermeintliche Ruhe in der Bequemlichkeit wurzelte, und die behauptete Toleranz der Gleichgültigkeit entstammte. Doch auch sie kannte ihre Schwächen, wollte nicht über ihn urteilen, und so bemühten sie sich 10 Jahre lang, miteinander zu leben.
Anders als erwartet, ließ er sich an diesem Abend nicht von Josef oder der Aushilfe vertreten. Ausstaffiert in der bevorzugten Kombination aus lässig und korrekt, in Edeljeans, einem dunkelblauen Leinenhemd und den handgearbeiteten Schuhen eines benachbarten Meisterbetriebs, trat er ihr entgegen. Das halblange graue Haar trug er zum Zopf geflochten. Arthur musterte Norma durch die Gläser der schwarzen Hornbrille. Eine Wolke Rasierwasserduft strich durch den Raum.
Normas Begrüßung fiel knapp aus: »Du bist hier?«
Er zog die schmalen Schultern hoch, griente spöttisch. »Falls dus vergessen hast: Mir gehört der Laden.«
»Ich dachte, du bist unterwegs. Dein Auto steht nicht draußen!«
Der Daimler sei in der Werkstatt. Wie so oft die Elektrik. Ein Montagsauto. Sein Lächeln wurde breiter. »Sag mal, musst du heute Abend spionieren? Vielleicht einen Ehemann auf verborgenen Wegen zu der Geliebten verfolgen?«
Ihre Arbeit war das Letzte, mit dem sich Arthur beschäftigen wollte. Es hatte ihn nicht gekümmert, was sie als Polizistin getan hatte, ihre Aufgaben als Kriminalhauptkommissarin waren ihm gleichgültig, und erst recht wollte er nicht wirklich etwas über ihre Einsätze als Private Ermittlerin wissen. Ihr neuer Beruf schien ihm peinlich zu sein. Menschen zu observieren, das war in seinen Augen verächtlicher als das, was diese Leute ihren Opfern antaten: jungen Müttern, die keinen Cent vom Vater ihres Kindes bekamen, Arbeitgeber, die den Lebensstandard ihrer schwarzarbeitenden und krankgeschriebenen Mitarbeiter aushalten mussten, und die betrogenen Ehefrauen. Während er sich von Gaunereien beeindrucken ließ, stand Norma auf der Seite der Unterlegenen. In den vergangenen Tagen hatte sie allerdings weniger für die Gerechtigkeit gekämpft als gegen die Hungergefühle der Besucher der Rheingauer Weinwoche, auf der sie hessische Spezialitäten verkaufte. Die Zahl der Ermittlungen hielt sich bisher in Grenzen, und die Miete musste bezahlt werden. Der Stand gehörte Bruno, und so konnte sie sicher sein, dass Arthur von ihrem Job auf Zeit wusste. Aber sie wollte nicht davon anfangen.
So erklärte sie nur, einen anstrengenden Tag hinter sich zu haben. »Was willst du?«
Arthur fügte ohne Umschweife eine Bitte an. Er müsse dringend nach Limburg. Dort biete ein Sammler mehrere Leuchten im Bauhausstil an, darunter eine Tischlampe von Wilhelm Wagenfeld. Falls es keine Nachbauten seien, was Arthur, wie er nicht vergaß anzumerken, mit Kennerblick feststellen würde, erwarte er echte Schnäppchen. Sofern er rechtzeitig dorthin käme. Ob sie ihn nicht fahren könne?
Über die Autobahn bedeutete das eine Fahrt von einer Dreiviertelstunde. Norma trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück. »Warum sollte ich das tun?«
»Du