»Er hat ihr die letzten Nerven geraubt und war durch und durch schlecht. Er wurde schon als schlechter Mensch geboren.«
»Niemand wird als schlechter Mensch geboren«, widersprach Trevisan. »Meist ist es das Umfeld oder widrige Umstände, die jemanden in seiner normalen Entwicklung aus der Bahn werfen.«
»Hört, hört«, witzelte Miriam Kleese. »Kein Wunder, dass es tagtäglich schlimmer wird mit Mord und Totschlag, wenn schon die Ordnungshüter nach Entschuldigungen für diese missratenen Kerle suchen. Aber ich weiß, wovon ich spreche. Der alte Kropp war abgrundtief schlecht und sein Sprössling war keinen Deut besser.«
»Haben Sie ihn in der letzten Zeit mal gesehen?«, unterbrach Trevisan ihren Vortrag über Gut und Böse.
»Ich sagte schon, es ist etwa zwei Jahren her.«
»Wo trafen Sie ihn?«
»Er kam hierher.«
Trevisan spürte, dass die Frau nicht darüber sprechen wollte. Er neigte den Kopf und schaute sie fragend an. »Was ist geschehen?«
Miriam Kleese zögerte.
»Jetzt haben Sie mir bereits den gesamten Lebenslauf Ihres Stiefbruders erzählt, nun können Sie mir ruhig noch den Rest erzählen.«
Miriam Kleese fuhr sich durch die Haare. »Sie werden es ja sowieso erfahren«, seufzte sie. »Nachdem Mutter gestorben war, verschwand er wie sein Vater. Ich hörte nur, dass er irgendwann in den Osten ging und dort geheiratet hat. Die arme Frau, dachte ich mir.«
»Und was war vor zwei Jahren?«
»Er muss irgendwie meine Adresse erfahren haben. Er tauchte kurz vor Anbruch der Dunkelheit auf. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.«
»Was wollte er?«
»Er brauchte Geld, aber ich habe ihn nicht ins Haus gelassen«, sagte Miriam Kleese. Ihre Nervosität war nicht zu übersehen.
»Ist er gegangen?«
Sie starrte durch das Küchenfenster. Draußen verdunkelte sich der Himmel. Eine Träne bahnte sich den Weg über ihre Wange.
»Was hat er getan?«, fragte Trevisan leise.
Eine zweite Träne folgte. Miriam Kleese schlug die Hände vor die Augen. Ein lauter Donnerschlag drang durch das Haus.
»Was?«, fragte Trevisan eindringlich. Dicke Regentropfen prasselten gegen das Fenster.
»Er hat versucht, mich zu vergewaltigen«, flüsterte Miriam Kleese.
Eine Weile schwiegen beide, nur das Gewitter und der Regen füllten die Stille.
»Er hat es versucht?«, fragte Trevisan.
Sie nickte. »Mein Nachbar kam zufällig nach Hause. Er hat wohl gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und kam mir zu Hilfe.«
»Und was geschah dann?«
»Er ist abgehauen. Er hat sich nie mehr blicken lassen.«
»Haben Sie ihn angezeigt?«
Miriam Kleese schüttelte den Kopf.
»Weiß Ihr Mann davon?«
Sie nickte. »Ich habe es ihm erzählt, als er von seiner Tour zurückkam. Helge ist kein Schwächling. Er hat herausgefunden, wo er ihn finden kann. Er hat ihn abgepasst und ordentlich vermöbelt. Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört. Das ist jetzt fast zwei Jahre her.«
Trevisan atmete tief ein. »Hat Ihr Mann ein Gewehr?«
Miriam Kleese trocknete ihre Tränen. »Er hat ihn nicht umgebracht, er ist gar nicht hier.«
»Entschuldigen Sie, aber ich muss Ihnen diese Fragen stellen«, entgegnete Trevisan. »Gibt es ein Gewehr im Haus?«
»Nein«, antwortete Miriam Kleese. »Sie können nachschauen, wenn es Sie interessiert.«
Trevisan wechselte das Thema. »Wissen Sie etwas über seine Ehefrau?«
Ein lauter Donnerschlag ließ das Haus erzittern.
»Ich weiß nichts über ihn, und ich will auch nichts wissen. Ich bin froh, dass er nicht mehr am Leben ist. Endlich ist Ruhe und er hat bekommen, was er schon lange verdient. Irgendwann muss eben jeder seine Zeche bezahlen. Und jetzt gehen Sie bitte, ich will alleine sein.«
Trevisan nickte und erhob sich. Wortlos ging er auf die Tür zu.
»Wie ist er überhaupt gestorben?«, fragte sie, noch immer am Tisch sitzend und aus dem Fenster starrend.
»Er wurde erschossen«, antwortete Trevisan, bevor er das Haus verließ und ihn der warme Gewitterregen empfing.
*
Das kleine Mietshaus lag abseits der Hauptstraße in einem Wohngebiet in Heppens. Efeu rankte sich an der Hauswand in die Höhe und reichte fast schon unter das Dach.
Hans Kropp hatte hier beinahe zwei Jahre eine kleine Einliegerwohnung im Erdgeschoss bewohnt. Sein Vermieter, ein wortkarger Rentner, ließ Alex und Tina ins Haus, nachdem sie sich ausgewiesen hatten.
Er beschrieb Kropp als ruhigen Mieter, der ab und an einen über den Durst getrunken, aber ansonsten eher ruhig und zurückgezogen gelebt hatte. Die Miete hatte er in letzter Zeit pünktlich bezahlt und Besuch hatte er nie empfangen. Nur einmal, vor einem Jahr etwa, hatte es einen Zwischenfall gegeben. Eine Frau war aufgetaucht und mit Hans Kropp in die Wohnung gegangen. Ein paar Stunden darauf hatte es einen heftigen Streit gegeben. Die Frau sei wie eine Furie aus der Wohnung gestürmt und seither nie wieder da gewesen. Alles in allem könne er nicht verstehen, warum man Hans Kropp umgebracht habe.
Er öffnete mit einem Zweitschlüssel bereitwillig die Wohnung des Ermordeten.
Alex blickte sich verwundert darin um. Er hatte eine typisch unordentliche Junggesellenbude erwartet. Aber obwohl die Wohnung nur aus einem großen Zimmer mit einer Schlafcouch, einer Kochnische und einem Badezimmer mit WC bestand, war sie durchaus ordentlich und aufgeräumt.
In einem Vitrinenschrank aus Kiefer waren auf den drei Einlegeböden unzählige kleine Figuren aus Überraschungseiern verteilt. Oben auf dem Schrank lag neben einem Bild von Hans Kropp, das ihn neben seinem Lastwagen zeigte, eine Plastikrose, eine Trophäe aus einer Jahrmarktsschießbude. Das Bett war ordentlich hergerichtet und die Kissen aufgeschüttelt. Auf dem Tisch lagen zwei Fernbedienungen, die zum Fernseher und der kleinen Stereoanlage auf dem Phonowagen neben der Badtür gehörten.
Alex begann, die Schrankschubladen zu öffnen. »Sieht so aus, als ob er Wert auf Ordnung legte«, sagte er und kramte weiter.
Tina durchsuchte in der Kochnische die beiden Schränke, die über der Koch- und Kühlkombination hingen. Selbst das Geschirr war sauber und akkurat eingeordnet. »Wenn wir nicht wüssten, dass er zu Lebzeiten ein ganz schöner Rabauke war, könnte man meinen, wir hätten es mit einem wertvollen Mitglied unser Gesellschaft zu tun«, antwortete sie.
Alex öffnete eine Schranktür und fand fein säuberlich aufgereihte Aktenordner. »Versicherungen, Kaufverträge, Lebenshaltung«, murmelte er. Schließlich stieß er auf einen Packen Briefe, die mit einer Schnur zusammengehalten wurden. Er löste den Knoten und begann zu lesen, während Tina im Badezimmer verschwand.
Alex ließ sich auf einem der beiden Sessel nieder. Nach einer kurzen Weile pfiff er durch die Zähne.
»… wir werden dich finden, egal wo du dich verkriechst. Du kommst uns nicht davon …«, las er laut vor.
Tina kam aus dem Badezimmer und lehnte sich gegen die Wand.
»Auf die Gerichte ist kein Verlass«, fuhr Alex fort, »deshalb werden wir selbst tun, was zu tun ist. Jenny hat das nicht verdient. Du wirst dich an jeden einzelnen Schlag erinnern. Mach dich auf etwas gefasst.«
»Was hast du da?«, fragte Tina.
Alex atmete tief ein. »Ein Sammelsurium an Drohbriefen, alle aus diesem Jahr.«
»Hast