Morgen kommt der Weihnachtsmann. Andreas Scheepker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Scheepker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839264485
Скачать книгу
Sie waren in einem Briefzentrum abgestempelt worden.

      Gerrit Roolfs seufzte. Früher hatte man anhand des Poststempels herausfinden können, wo ein Brief eingeworfen worden war. Aber die Integration der »Fürstlich-Ostfriesischen Post« in die Bundespost vor etwa fünfzehn Jahren hatte dem ein Ende gemacht.

      Die Überschaubarkeit und Abgegrenztheit des ostfriesischen Fürstentums hatte Vorteile für die Ermittlungsarbeit. Roolfs hatte allerdings in den vergangenen Jahren den Eindruck gewonnen, dass Ostfriesland immer mehr Eigenständigkeit aufgab, und dass Fürst Carl Edzard diese Entwicklung sogar unterstützte.

      Der Kopierer begann zu brummen. Er war betriebsbereit.

      »Dürfen wir wieder reinkommen?« Klaus Tjarksen hatte fast unhörbar die Tür geöffnet und stand unbeholfen im Türrahmen.

      »Ja, bitte. Holen Sie Ihre Mutter auch dazu. Nehmen Sie bitte Platz.« Roolfs kopierte die Briefe und die Umschläge. Dann packte er die Klarsichthüllen mit den Originalen in seine Tasche.

      »Frau Tjarksen, wer hat diese Briefe an Ihren Mann geschrieben?«, fragte er und legte die Kopien vor sie auf den Tisch.

      Renate Tjarksen überflog die Briefe und schlug dann die Hände vors Gesicht. »Ich kann mir das gar nicht vorstellen, also, ich weiß wirklich nicht … Wer könnte so etwas tun?«

      Das Feuerzeug flammte vor ihrem Gesicht auf, und sie inhalierte den Rauch tief, um ihn dann geräuschvoll seufzend auszuatmen. »Mein Mann war ein Geschäftsmann. Der ging mit dem Kopf durch die Wand. Sie wissen ja, wie er war.«

      »Was wollen Sie uns damit sagen?«, fragte Roolfs.

      »Das Geschäftsleben ist ein harter Konkurrenzkampf«, schaltete sich Klaus Tjarksen ein. »Da müssen Sie kämpfen oder untergehen. Mein Vater war ein Kämpfer. Und manchmal ist er sehr weit gegangen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

      »Ehrlich gesagt: nein. Das müssen Sie mir schon näher erklären«, antwortete Roolfs.

      »Mein Vater hatte viele Verbindungen zu Banken, zu Großhändlern, zu Leuten in Gemeinderäten und Verwaltung. Und er scheute sich auch nicht, das auszunutzen – in einem gewissen Rahmen natürlich, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

      »Wieso muss ich immer verstehen, was Sie meinen?«, fragte Roolfs gereizt. »Sagen Sie es mir doch! Hat Ihr Vater Schmiergelder bezahlt und Konkurrenten bei Großlieferanten und Banken verleumdet? Soll ich das so verstehen, was Sie meinen?«

      Klaus Tjarksen zuckte zusammen und verzog das Gesicht wie bei einem plötzlichen, starken Schmerz. Er atmete geräuschvoll durch die Zähne ein. »Nein, nein, Herr Kommissar, das habe ich nicht gesagt. Es gibt da so einen Zwischenbereich …«

      »Hören Sie!« Hauptkommissar Roolfs’ Stimme klang bedrohlich. »Ihr Vater liegt im Leichenschauhaus. Und wir wollen wissen, wer daran schuld ist. Sie machen mir bis morgen früh eine Liste mit allen Namen von Geschäftsleuten, die Ihr Vater fertig gemacht hat. Und dann unterhalten wir uns mal in aller Ruhe über seine Geschäftspraktiken.«

Mittwoch, 4. Dezember

      Geschenkpapier

      Buchhändler Johannes Fabricius knallte den Hörer auf. Er war verärgert. Am dritten Adventswochenende sollte eine adventliche Landpartie auf der Dornumer Westerburg stattfinden. Nach dem großen Erfolg der Landpartien auf Schloss Gödens wollte Mareke Meents-Grootekamp, die neue Besitzerin der Westerburg, diese Idee auch in Dornum umsetzen.

      Leider, so hatte sie Fabricius mitgeteilt, war die Buchhandlung, die sie ursprünglich für das Event ausgesucht hatte, kurzfristig abgesprungen. Aber auf ein Buchangebot wollte Mareke Meents-Grootekamp bei ihrer Landpartie auf keinen Fall verzichten. »Bücher gehören doch irgendwie mit dazu. Ein bisschen was lesen, das ist doch auch was Schönes. Ein schönes Buch mit einem Glas Wein und ein bisschen Musik … Das ist doch Kultur, Herr Fabricius.«

      Natürlich hatte Fabricius zugesagt. Er sah es zwar als Affront an, dass er als Fürstlicher Hofbuchhändler nicht als Erster gefragt worden war. Aber er wusste auch, dass er auf immer draußen wäre bei den Landpartien, wenn er jetzt nicht zugriff. Und er hatte ihr zusagen müssen, dass er am Sonnabend Lesungen organisieren würde.

      Fabricius ärgerte sich über sich selbst und darüber, dass er in diesem Telefonat außer ›Ja‹, ›Das kriegen wir schon irgendwie hin‹ und ›Aber klar doch‹ kaum etwas gesagt hatte. Auch mit Ende vierzig war er in manchen Situationen nicht in der Lage, seine Meinung klar zu äußern und seine Interessen zu vertreten Stattdessen ließ er sich von Leuten wie Mareke Meents-Grootekamp unterbuttern. Es war nicht zu fassen!

      »Herr Erdwiens ist gerade gekommen, er wartet oben auf Sie«, sagte Tanja, die Auszubildende, und störte seinen Gedankenkreisel.

      Fabricius brummte und ging nach oben, in den Bereich der Buchhandlung, der wie eine große Bibliothek aussah. Mit vollgepackten Regalen und Bücherstapeln, die zum Stöbern, Suchen und Finden verführten, und mit Sesseln, die zum Sitzen und Lesen einluden – eben so, wie nach Fabricius’ Meinung eine richtige Buchhandlung sein sollte.

      Aber er wusste auch, dass er zur Finanzierung dieser Traumbuchhandlung die untere Etage brauchte, in der Kochbücher, Reiseführer, Bestseller, Krimis und Bücher für Hobby und Garten in den üblichen Wandregalen präsentiert und verkauft wurden – in jeder Buchhandlung das ewig gleiche Angebot der ewig gleichen Titel aus der kleinen Auswahl der ewig gleichen Verlage. Im Unterschied zu einigen anderen Buchhandlungen verzichtete er allerdings darauf, zusätzlich Plüschtiere, Schreibwaren und Mitbringsel in sein Sortiment aufzunehmen.

      »Herr Erdwiens, was kann ich für Sie tun?« Johannes Fabricius ging auf den älteren Herrn zu, der sich im Nu aus dem Sessel erhob, wie immer tadellos gekleidet im grauen Anzug mit Weste und leuchtend bunter, modischer Krawatte. Onno Erdwiens breitete die Arme aus, seine Wangen leuchteten wie rotbackige Äpfel, sein schlohweißes Haar und seine funkelnde Brille ließen ihn wie einen Weihnachtsmann aussehen.

      Erdwiens’ Stimme donnerte durch den Laden. »Gerechtigkeit für Marenholz! Ich will nichts als Gerechtigkeit für Marenholz!«

      Erdwiens schrieb, seitdem er als Leiter des Norder Gymnasiums pensioniert war, historische Romane über Ostfriesland, die sich mit gutem Erfolg in der Region verkauften. Er war belesen, talentiert und äußerst liebenswürdig. Im Gleichgewicht wurden diese guten Gaben durch sein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Öffentlichkeit und Anerkennung gehalten, sowie durch seine Unfähigkeit, in einem Gespräch, in dem es nicht um ihn oder seine Lieblingsthemen ging, länger als eine Minute zuzuhören.

      »Herr Erdwiens, ich glaube, ich verstehe nicht ganz«, antwortete Fabricius irritiert.

      »Das ist mein neues Buch: Gerechtigkeit für Marenholz! Ich habe einen Roman über den unglücklichen Geheimrat Marenholz geschrieben. Mit einem Justizmord hat ihn der Sohn von Gräfin Juliane beseitigen lassen. Und ich möchte das Buch nirgendwo anders vorstellen als hier bei Ihnen. Nun, was sagen Sie? Sagen Sie ›Ja‹, und Sie machen einen alten Schriftsteller glücklich!« Onno Erdwiens umfasste Fabricius’ Schultern. Sein Aftershave roch durchdringend.

      Der Buchhändler hatte auf einmal eine Eingebung. »Herr Erdwiens, ich mache Ihnen noch ein viel besseres Angebot: In zehn Tagen ist die Landpartie auf der Dornumer Westerburg. Ich bin für die literarische Begleitung dieses Ereignisses zuständig und darf den Schriftsteller vorschlagen, der die Lesungen gestaltet. Ich möchte Sie vorschlagen.«

      Onno Erdwiens drückte Johannes Fabricius an sich. »Johannes, von heute an sind wir Freunde! Jetzt kann es Weihnachten werden!«

      Zucker

      Gerrit Roolfs fuhr den Westlinteler Weg hoch. Er dachte darüber nach, wie lange es wohl dauern mochte, bis die Baulücke zwischen Norden und Norddeich geschlossen würde. Er nahm die Linkskurve in den Hollanderweg, fuhr noch ein Stück und hielt dann vor einem Einfamilienhaus.

      Mit wenigen Schritten war er an der Tür. Er drückte auf den Klingelknopf und vergewisserte sich, dass ein Summton im Flur zu hören war. Er sah noch einmal auf die Namensliste,