Der Schmerz überkam sie mit aller Macht, als ihr klar wurde, wie sehr sie der einzigen Familie wehtat, die sie noch hatte. Sie musste aufhören – für den Moment.
Tränen brannten in ihren Augen und sie schluckte schwer, als das Feuer in ihr abkühlte. Das Letzte, was sie wollte, war, der Welt zu zeigen, wie sie heulte.
Ohne ein weiteres Wort ging sie zu Belita, küsste sie auf die Wange und legte ihr einen Arm um die dürre Schulter, als sie sie zum Auto führte.
»Mrs. Duran. Wenn es irgendwas gibt, was ich für Sie tun kann…«
Diese Frau wird nicht aufgeben. Statt einer Antwort packte Naomi den Türgriff, drehte sich aber nicht um. Sie atmete tief ein und schwor sich, dass sie einen Weg finden würde, der Senatorin heimzuzahlen, was sie getan hatte. Auf die eine oder andere Weise würde sie Gerechtigkeit für ihren Vater finden.
6
Verborgen in den Schatten hinter Belitas Haus spähte Lash durch das offene Fenster und hoffte, dass er Naomi finden würde. Er war zu der Adresse gegangen, die man ihm gegeben hatte, aber als er herausgefunden hatte, dass sie nicht da war, hatte er die Wohnung nach Hinweisen darauf durchsucht, wo sie sein könnte. Nach der Vision, die Raphael ihm gezeigt hatte, musste er offensichtlich vorrausschauend vorgehen und konnte nicht warten, bis sie zurückkam.
Er fand nichts Ungewöhnliches: ein spärlich eingerichtetes, kleines Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, in dem Schulbücher die Regale füllten, eine Küche, die abgesehen von einem Stapel Zeitungen auf dem Tisch makellos war. Er warf einen Blick auf die Zeitung ganz oben auf dem Stapel. Die Seiten mit den Nachrufen war aufgeschlagen und das Foto eines Mannes im mittleren Alter lächelte ihm entgegen. Unter dem Foto stand ein Name: Javier Duran.
Lash griff sich die Zeitung und las es sich durch. Da waren einige Sätze, die besagten, dass Javier seinen Abschluss an der University of Texas gemacht hatte und dass seine Frau verstorben war. Was ihm ins Auge fiel, waren zwei der Namen, die unter den Hinterbliebenen aufgeführt waren: Naomi und Anita Duran.
Er rief sich die junge Frau mit dem pechschwarzen Haar und der getönten Brille, die am Telefon gesprochen hatte, in Erinnerung. Anita war Javiers Mutter. Derselbe kleine Junge, der vor Jahren sein Schützling gewesen war, und jetzt war er tot. Lash warf die Zeitung zurück auf den Tisch und fuhr sich niedergeschlagen mit der Hand durchs Haar. Was war hier los? Das Kind, dass er gerettet hatte, hatte nicht einmal die Möglichkeit gehabt, sein Leben zu Ende zu leben.
Er schritt nachdenklich auf und ab. Es musste einen Grund dafür geben, dass Michael Naomi gerade ihm zugeteilt hatte und es würde sich um mehr handeln, als nur darum, sein Vertrauen und seine Loyalität zu beweisen – aber was?
Lash sah sich einen Laptop auf dem Couchtisch im Wohnzimmer an und ergriff ihn. Was auch immer die Verbindung war, er würde es bald genug herausfinden. Aber zuallererst musste er Naomi finden. Er googelte kurz und fand Anitas Adresse. Er dachte, dass Naomi vielleicht dort wäre, zumal heute die Beerdigung war, und begab sich direkt zu Anitas Haus.
Als Lash sich dem kleinen weißen Haus näherte, hörte er gedämpfte Stimmen streiten. Er schlich sich in den Hinterhof und nahm Bewegungen hinter einem geöffneten Fenster wahr.
»Streite es nicht ab, Naomi.«, sagte eine tiefe Stimme. »Dir ist schon der Gedanke gekommen, dass dein Vater wahrscheinlich betrunken war.«
»Er hat es mir versprochen, Chuy«, sagte Naomi hitzig. »Er hat gesagt, er hätte das Zeug seit über einem Monat nicht angerührt.«
»In den Zeitungen stand –«
»Scheiß auf die Zeitungen. Ich kenne meinen Vater.«
Lash war überrascht von Naomis kräftiger Stimme, so anders als das liebliche Lächeln auf dem Foto, dass ihm gegeben worden war. Er schob sich in eine bessere Position, um zu versuchen, einen Blick auf sie zu erhaschen. Er war neugierig zu sehen, wie jemand, der so zerbrechlich aussah, so klingen konnte. Als er sich allerdings vorlehnte, war ein Blick auf Chuys breite Schultern, die von einem weißen Trägershirt bedeckt waren, alles, was er bekam.
»Komm schon, Naomi«, sagte er. »Du hattest Zweifel.«
Naomi hielt den Atem an und atmete dann langsam aus. »Ja, hatte ich. Als ich ihn in der Nähe des Biers sah, war ich ein bisschen nervös, das gebe ich zu. Bevor er zur Arbeit gefahren ist, haben wir miteinander gesprochen. Er war nüchtern. Ich weiß es. Es ist unmöglich, dass er irgendwo angehalten hat und – «
»Schhhh, da kommt Belita.«
Belita schlurfte in die Küche. »Wieso tut ihr so, als könnte ich nicht hören? Ich kann euch den ganzen Weg bis in den Flur hinunter hören.«
»Du solltest dich ausruhen. Wieso bist du auf?« Chuy trat vom Fenster weg.
Lash stockte der Atem, als er endlich Naomi sah, die am Kühlschrank lehnte und einen Fuß gegen die Tür gestemmt hatte. Seine Augen wanderten ihre langen Beine hinauf. Die Ärmel und der Kragen des schwarzen Band-T-Shirts waren abgeschnitten und ließen ihre blassen Schultern frei. Dunkle Wimpern rahmten eindringliche hellblaue Augen ein, die zwischen Belita und Chuy hin- und herfuhren. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn und sein Herz klopfte heftig. Ihre Augen hatten etwas an sich… Er hatte sie schon einmal irgendwo gesehen, aber er konnte nicht sagen, wo.
Belita ging in Richtung der Speisekammer. »Ich bin gekommen, um Futter zu holen für… was ist das?«
Was zur Hölle? Lash duckte sich, als Belita sich zum Fenster umdrehte. Wie konnte sie mich sehen? Es war dunkel draußen und es gab kein Licht, das ihn hätte verraten können.
»Was ist los?«, fragte Naomi.
»Ich dachte, ich hätte was am Fenster gesehen«, entgegnete Belita.
Nackte Füße tappten über den Boden und Lash hörte, wie die Fensterscheibe höher geschoben wurde. Er hielt den Atem an, als Naomi heraussah. Wind kam auf und der Geruch von Jasmin und Vanille, gemischt mit Moschus, wurde durch die Luft herangetragen. Sie roch genau so sinnlich wie sie aussah.
»Ich sehe nichts.« Naomi zog sich in die Küche zurück.
»Ich frage mich, ob das wieder sie ist.« Belita öffnete die Tür der Speisekammer und holte eine Dose Hundefutter heraus.
»Wer, ‚sie‘?« Chuy nahm einen Dosenöffner heraus und reichte in Belita.
»Rebecca«, antwortete sie.
»Wer ist Rebec–au!«, rief Naomi. »Bear, hör auf mich anzuspringen. Ich bin nicht diejenige mit dem Fressen.«
Es gab einen Tumult und etwas klang wie das Klicken von Pfoten auf dem Boden.
»Belita, du musst Bears Krallen schneiden lassen. Sie zerkratzt mir die Beine.«
Verdammt, ein Hund. So gern Lash pelzige kleine Wesen auch hatte, er war noch keinem begegnet, das ihn mochte. Es war, als könnten sie fühlen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Er fragte sich, wie viel Zeit ihm noch blieb, bevor der Hund seinen Geruch wahrnahm. Würde Bear ihn angreifen, wie es die anderen in der Vergangenheit versucht hatten? Er kämpfte gegen den Drang an, einen Blick zu riskieren, um die Größe des Hundes einzuschätzen. Gebissen zu werden war kein Problem, weil er schnell heilte, aber er wollte sich lieber nicht mit den Schmerzen befassen. Wenn Bear seinen Geruch wahrnahm, würde es dadurch schwer werden, Naomi aus der Ferne zu beschützen.
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