Das Modell. Jan Kuhlbrodt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jan Kuhlbrodt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960540151
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Ein Fremdling vielleicht, aber bestens getarnt. Vom Besucher wurde ich zum Stuhl, auf dem der Besucher sitzt oder neben dem er steht, weil er der Standfestigkeit des Stuhles nicht traut.

      Ich werde ihn dieses Mal warten lassen (wenn er wartet), ich werde nicht mehr versuchen, ihn so schnell wie möglich einzuholen, und wenn ich den Rest meines Lebens auf diesem Hof verbringe, an diese Mauer gelehnt, die die Sonnenwärme gespeichert hat.

      Ich werde ein Erinnerungsregister anlegen, eine Bibliothek, verzeichnen, kategorisieren, und das Leben in den Griff bekommen, wenigstens das vergangene, jetzt und hier in diesem bei Tag so überschaubaren Hof hinter dem Haus meiner Mutter.

      2.

      Wenn es mir gelingt, könnte ich diesen Sessel, der übrigens um einiges unbequemer ist, als ich noch vor Stunden gedacht habe, ich könnte ihn endlich zurückstellen zu den zerschlissenen Matratzen und kaputten Fernsehgeräten.

      Dann, kommt es mir vor, könnte ich eingreifen, könnte etwas verändern, retten gar, was längst hinabgetrieben ist. Aber nur für einen kurzen Moment; und die Luft am Abend wird kühler, wie immer. Doch dass es zum Regnen kommt, glaube ich nicht.

      Kleinigkeiten, Dinge, deren Bestand von so geringer Dauer ist, dass sie verschwinden, während man ihren Namen ausspricht. Sie bilden Barrieren. Barrieren, die ich umgehen musste, die meinen Weg bestimmten, die ihm eine Form gaben, weit weg von meiner Vorstellung des Weges und jenseits des Zieles, welches wir, Thilo und ich, angepeilt hatten, und dem Thilo sich, und nur er, wie mir scheint, auf einer Geraden näherte.

      Nennen wir es Amerika, nennen wir es Kunst. Ein Ziel jedenfalls fernab von jeder Erfahrung, von unserer Erfahrung.

      Ich selbst habe ihm die Umwege abgenommen. Und ich habe im Osthafen an Trägern und Schrauben manipuliert, so dass Thilos Skulptur kippen und ihn treffen konnte, nicht musste. Denn ich konnte ja nicht wissen, wo Thilo stehen würde, in jenem Moment, da sie fällt. Ein Unfall.

      3.

      Über die Klingelanlage des Hauses, das ich in Frankfurt bewohnte, und das ich jetzt für immer verlassen habe, um hier hinter dem Haus meiner Mutter zu sitzen, hatte jemand, kurz bevor es passierte, mit rostrotem Lack einen Paviankopf gesprüht. Der Affe sah missmutig aus, fletschte die Zähne, die Augen hatte er katzenhaft zusammengekniffen.

      Einige Zeit vorher noch hätte ich das Graffito betastet, an ihm gerochen und bei frischer Farbe gehofft, dass mir irgendjemand etwas hatte mitteilen wollen, so wie wir uns in der Schulzeit gegenseitig kleine Zettel in die Taschen gesteckt hatten. Keine einfachen Worte, kryptische Zeichen, Kritzeleien. Botschaften, für deren Entschlüsselung der Empfänger stundenlang hatte brüten müssen, für die man über ein Wissen verfügen musste, das in der Schrift keine Entsprechung fand, ein Wissen, das ohne ein geschriebenes Wort auskommt, das »direkt aus dem Leben sich ergibt«, das heißt, unmittelbar ist.

      Wären wir gläubig gewesen, hätten wir von Erleuchtung gesprochen. Aber wir waren nicht gläubig, und bei Erleuchtung kam uns nicht Christus in den Sinn, sondern der Weihnachtsbaum, den wir, Thilo und ich, mit Kochlöffeln und Garnrollen behängten. Wir fanden das witzig.

      Aber man kann die Dinge nicht einfach in die Texte kleben. Der Abguss als Zeichnung. Es war ein Dakerwissen, denn auch dieses Volk kannte die Schrift nicht, aber Chiffren, die dem Außenstehenden nur Strichmännchen waren oder eben gebogener Draht. Als sei die Stadt in ihrer Gänze auf mich bezogen gewesen, als sei sie meine Behausung gewesen, ein mittelalterlicher oder noch älterer Kosmos voller Ahnungen und Ahnen und keine vorübergehende Zufluchtsstätte, überdeckt nur von Bahngleisen und Ausfallstraßen. Ein Verkehrsstern, der anzog, oder die Fliehkraft einer Wäschetrommel. Obwohl Frankfurt mir genau Letzteres war.

      Aber wie soll man das wissen, bevor man einen Ort (für immer vielleicht) verlässt. Und wäre ich damals aus dieser Stadt verschwunden, dann ohne etwas zurückzulassen, ich wäre spurlos verschwunden. Inzwischen sehe ich in den Wandbildern und Graffiti nur noch jene Zufälligkeit, die auch in den Formen der Wolken liegt.

      Im Treppenhaus roch es nach Urin, und ich war darauf gefasst, den Junkie zu treffen, der für gewöhnlich unter der Kellertreppe saß, sich ein Schienbein bandagierte und der nie auch nur den Kopf hob, wenn ich den Hausflur betrat. Ich überlegte, wie immer, ob ich ihn grüßen sollte. Gewissermaßen gehörte er ja zur Hausgemeinschaft, und sogar die alte Frau Elfen, die im Erdgeschoss wohnte, hatte es schon lange aufgegeben, nach der Polizei zu rufen und ihn entfernen zu lassen. Er kam ja doch immer wieder, saß unter der Kellertreppe, kochte sein Heroin in einem kleinen Löffel aus Aluminium über einer Haushaltskerze und stank.

      Du denkst überhaupt zu viel, ein Kommentar aus meiner Jugend, dabei hatte ich noch gar nicht angefangen zu denken. Mit alten Gesellschaften ist es wie mit altem Wein, es bildet sich ein Bodensatz, der in der Flasche bleibt, während das dekantierte Gut umso edler ist. Vulgärsoziologie! Und wer waren die Edlen, kurz vor dem Verschwinden?

      Ach, Herr Schroth, sagte Frau Elfen, als ich mit einer Tüte Lebensmittel unter dem Arm hereinkam. Was soll man tun, Herr Schroth? Und mir war, als hätte sie schon eine Weile so gestanden und den Platz des Junkies betrachtet. Irgendwann würde Frau Elfen ihm eine Schüssel Milch unter die Treppe stellen, mit Weißbrotstücken darin wie für eine Katze.

      Der Junkie war nicht da, diesmal nicht, nur sein Geruch hing im Haus. Dieser Gestank, der in die Wände eindrang, in die hölzernen Treppenstufen und den Deckenputz und der auch der Zugluft trotzig widerstand, ein Geruch, der die Form des Hauses angenommen hatte und wahrscheinlich noch da sein würde, wenn der Junkie selbst schon lange an einer Überdosis gestorben und das Haus abgerissen wäre.

      Denn dieser Geruch würde sich auch ohne das Haus hier erhalten, als leise stinkender Abguss, als Geruchsskulptur, und man würde die Umrisse des ehemaligen Hauses abschreiten können, indem man an ihnen entlangschnüffelt. Hundebesitzer werden sich einst über das merkwürdige Verhalten ihrer Tiere an dieser Stelle wundern. Und die werden eine neu angelegte Grünanlage nur widerwillig betreten.

      Einmal, vielleicht nur einmal im Leben würde jeder von uns etwas hinterlassen, dachte ich, etwas, das die Nachfolgenden wahrnehmen, riechen, betasten oder betrachten und wenn überhaupt, dann nur mit Mühe entschlüsseln könnten. Und ich beschloss, den Junkie zu grüßen, wenn ich ihn das nächste Mal sähe. Vielleicht haben wir alle nur diese eine einzige Chance, uns in so etwas wie ein materielles Gedächtnis dieser Welt einzuschreiben. Und vielleicht war ja der Fußabdruck in der Garageneinfahrt meines Vaters das, was ich hinterlassen sollte.

      Dieser unachtsame Tritt in den noch nassen Beton. Größe fuffzich, hatte ein Nachbar gesagt, da kannste die Suppe gleich reinschütten, und die Garagenbauergemeinschaft hatte sich nicht die Mühe gemacht, meinen Fehltritt auszugleichen. Er hatte über die Jahre Moos angesetzt, das bei jedem Regenschauer ergrünte.

      Ich denke, dass die Nachfolgenden das Vergangene der unabänderlichen Natur zuschlagen oder irgendeiner Objektivität, es mystifizieren und stolz darauf sind, nicht an Geister zu glauben. Warum auch? Es hat so kommen müssen. Dieser Satz, den ich immer wieder hörte, von Freunden und von Verwandten. Es hat so kommen müssen. So und nicht anders, und weil die Geschichte ja bereits fortgeschritten war, ist dieser Satz nicht zu widerlegen. Und der Vorwurf, der leise Vorwurf, der in diesem Satz liegt, oder aber die Resignation, die mitschwingt, wird einem zum ständigen Begleiter.

      Der Uringestank jedenfalls trieb mir die Tränen in die Augen, und ich hielt mir ein Taschentuch fest vor die Nase. Das nützte wenig, also nahm ich immer zwei Stufen auf einmal, als ich in meine Wohnung hinaufrannte, und ich achtete kaum auf die ehemals hellbraune Prägetapete, die die Hausverwaltung vor Jahren im Treppenhaus hatte anbringen lassen, als ihr plötzlich der rohe Putz an den Wänden ein Dorn im Auge gewesen sein musste. Seit ich hier wohnte, war niemand mehr ein- oder ausgezogen, und da keiner größere Möbel über die Treppe gewuchtet hatte, war die Tapete fast unbeschädigt geblieben. Ihr fehlten die Risse und Schrunden, die Tapeten in Mietshäusern und die Rücken wild lebender Elefanten auszeichnen, zumindest die in jenen Häusern, in denen die Bewohner ihre Naturholzbetten und Second-Hand-Küchen selbst in die Wohnungen trugen oder von nahen Angehörigen tragen ließen.

      Nur