»Und wann bin ich alt genug?«
»Sagen wir, in drei Jahren.«
»Das ist ja noch eine halbe Ewigkeit.« Selina schnitt eine merkwürdige Grimasse. »Aber bis dahin werde ich keine Zeile von deinem Inkabuch lesen, Vati.«
David lachte auf. »Du weißt genau, daß es noch Jahre dauern wird, bis es fertig ist.« Er strich ihr durch die langen, blonden Haare. Wie hübsch sie ist, dachte er. Flüchtig erinnerte er sich daran, wie gern er in Marions Haare gegriffen hatte. Selina war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Von ihm hatte sie nur den Charakter und das Wesen geerbt.
»Ich weiß nicht, aber irgendwie riecht es angebrannt.« Marlene wandte sich der Tür zu.
»Das Gemüse!« David Färber stürzte in den Korridor.
»So, und wir beide sorgen jetzt dafür, daß der Koffer fertig gepackt wird«, sagte Marlene energisch. »Denk’ auch daran, daß auf Capri das Wetter schon so herrlich ist, daß du baden gehen kannst. Wo hast du denn deinen Badeanzug?«
»Noch im Schrank.« Selina lachte. »Den hätte ich völlig vergessen.«
Eine halbe Stunde später war der Koffer gepackt und stand bereits im Korridor. Selina verließ das Haus, um sich von ihren Freundinnen zu verabschieden. Sie versprach, innerhalb einer Stunde wieder zurück zu sein. Vom Küchenfenster aus blickten ihr Marlene und David nach.
»Gut, daß Marion nicht ahnt, wie ungern Selina zu ihr kommt«, meinte David aufseufzend. »Manchmal frage ich mich, ob ich nicht doch einen Fehler gemacht habe. Ich war zwar bestrebt, Selina nicht gegen ihre Mutter zu beeinflussen, aber vielleicht unbewußt…«
»Du hast dir nicht das geringste vorzuwerfen, David.« Marlene Hofrat strich ihm liebevoll eine braune Strähne aus der Stirn. »Es ist ganz allein die Schuld deiner Ex-Frau. Bis jetzt war für Selina jeder Besuch bei ihr mehr als enttäuschend. Irgend etwas hat es auf Capri immer gegeben. Sei es, daß deine Ex-Frau nicht genügend Zeit für Selina hatte, sei es daß ausgerechnet um diese Zeit das ganze Haus voller Gäste war... Jedenfalls hat sie sich niemals ausschließlich um Selina gekümmert. Das ist nun über ein Jahr her. Hättest du sie nicht gebeten, Selina über Ostern einzuladen, dann…«
»Schon gut.« David küßte sie leicht auf die Wange. »Es ist dir gelungen, mich wieder aufzurichten.«
»Du solltest nicht über alles Witze machen, David.«
»Wenn ich jetzt sage, daß ich dich liebe, Marlene, dann ist das kein Witz, sondern völliger Ernst.« David nahm die junge Frau in die Arme. »Ich wünschte, wir hätten uns früher kennengelernt, Liebling, und zwar, bevor ich überhaupt etwas von Marions Existenz ahnte. Selina wäre dann deine Tochter…« Zärtlich glitten seine Finger über ihr Gesicht.
»Ich wäre sehr glücklich darüber« flüsterte Marlene. Mit strahlenden Augen schmiegte sie sich an ihn.
Der Tisch im Eßzimmer war festlich gedeckt. David Färber hatte seine Schürze abgebunden. Er saß Marlene direkt gegenüber. Selina, die rechtzeitig zum Essen zurückgekehrt war, fuhr den Servierwagen hinein. Während sie die Kerzen anzündete die auf dem Tisch standen, verteilte Marlene die Suppentassen.
»Morgen abend sitze ich schon bei Mutti auf der Terrasse und esse Pizza«, sagte Selina plötzlich. »Das heißt, wenn Mutti nicht ausgeht.«
»Na, am ersten Abend wird sie bestimmt zu Hause bleiben«, wandte David ein. »Wie schmeckt euch meine Fenchelsuppe?«
»Prima, Vati, du solltest immer kochen.«
»Laß’ das nicht Frau Stein hören«, meinte Marlene. »Sie bekommt es fertig und kündigt.«
»Ich würde so etwas nie zu ihr sagen«, erwiderte Selina. »Ich mag Frau Stein sehr gern, und kochen kann sie auch ganz gut. Nur Vati macht eben ganz besondere Sachen.«
»Er ist ja auch etwas ganz Besonderes.« Marlene blinzelte David zu.
»Du sagst es.« Der Professor nahm ihre Hand und drückte sie.
Einige Minuten später stand die junge Frau auf, um die Suppentassen abzuräumen. Selina machte auf dem Tisch Platz für die Platte mit dem Cordon bleu. Sie legte gerade den Servierlöffel dazu, als es klingelte.
»Nanu, wer kann denn das sein?« Professor Färber stand auf. »Laßt nur, ich gehe schon zur Tür.«
»Von meinen Freunden ist es bestimmt niemand«, sagte Selina zu Marlene. »Die wissen doch alle, daß wir um diese Zeit essen. Außerdem habe ich mich schon von ihnen verabschiedet.«
Es dauerte nicht lange, bis David zurückkam. Sein Gesicht wirkte grau. Marlene warf ihm einen besorgten Blick zu. »Ist etwas passiert?« fragte sie angstvoll. Erst dann entdeckte sie das Telegramm in seiner Hand.
»Hat Mutti abgesagt?« fragte Selina. »Hat sie keine Zeit für mich?«
David reichte Marlene stumm das Telegramm. »Selina, Liebes, es ist etwas Furchtbares passiert«, sagte er tonlos. »Deine Mutter hatte gestern vormittag einen Unfall. Sie...« Er schluckte. »Deine Mutter ist tot.«
Selina sprang auf. Ihre Augen starrten ihn entsetzt an. »Tot?« wiederholte sie. Dann warf sie sich in seine Arme. »Und ich wollte nicht zu ihr.« Aufschluchzend verbarg sie ihr Gesicht an seiner Brust.
»Du hast keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen, Liebes«, versuchte David, seine Tochter zu trösten. »Daß du nicht die Osterferien bei deiner Mutter verbringen wolltest, hat nichts mit ihrem Tod zu tun.«
»Aber ich hätte sie öfter anrufen können«, stammelte Selina. »Ich hatte aber nie Lust, sie anzurufen.« Sie klammerte sich an ihn. »Vielleicht hat Mutti nur darauf gewartet.« Ihre Augen waren angstvoll auf ihn gerichtet.
»Das glaube ich nicht.« David drückte sie fest an sich. »Deine Mutter hätte doch auch anrufen können, oder?«
»Trotzdem.« Selina löste ihre Hände vom Vater. »Ich möchte ins Bett gehen.«
»Ich komme mit dir mit, Selina.« Marlene legte einen Arm um die Schultern der Zwölfjährigen. »Ich bleibe bei dir, bis du eingeschlafen bist.« Sie wandte sich halb zu David um. »Kannst du bitte einen Beruhigungstee aufbrühen?«
»Natürlich.« Der Mann warf nochmals einen kurzen Blick auf das Telegramm, das Marlene auf den Tisch gelegt hatte, dann ging er in die Küche.
Es dauerte lange, bis Selina trotz des Beruhigungstees eingeschlafen war. Zehn Uhr war längst vorbei, als Marlene endlich von ihrem Bett aufstand und ins Wohnzimmer ging. David Färber saß in einem der Sessel. Schwer stützte er den Kopf in die Hände. Als sie eintrat, blickte er auf. »Alles in Ordnung?«
Marlene nickte. »Sie schläft.« Sie strich sich müde über die Stirn. »Soll ich uns einen Kaffee machen?«
»Ich habe schon welchen aufgebrüht. Ich muß ihn nur noch hereinholen.« Der Professor wollte aufstehen.
»Laß nur, ich mache das schon.«
»Lieb von dir.«
Als Marlene das Eßzimmer durchquerte, merkte sie, daß David den Tisch abgeräumt hatte. Das Cordon bleu stand auf der Anrichte in der Küche, das gebrauchte Geschirr war bereits abgewaschen. Sie stellte die Schüssel mit dem Fleisch in den Eisschrank, dann nahm sie die Kaffeekanne und kehrte zurück. David hatte inzwischen Kaffeetassen und Unterteller auf ein kleines Tischchen gestellt.
»Ich habe mit Marions Mädchen gesprochen«, sagte er, nachdem er den ersten Schluck Kaffee getrunken hatte. »Zum Glück spricht diese Angela sehr gut deutsch. Mein Italienisch ist nämlich nicht gerade berühmt.«
»Angela?«
»Ach so, das habe ich auch erst jetzt erfahren. Marion hatte schon wieder einmal ein neues Mädchen. Du weißt ja, keine Hausangestellte hat es lange bei ihr ausgehalten. Dabei hat sie sich stets bemüht, nett zu ihnen zu sein.« Er zuckte die Schultern. »Sie war einfach nicht für ein ruhiges Leben geschaffen. Sie mußte stets mitten