Die kleine Villa stand am Abhang des fast sechshundert Meter hohen Monte Salora. Von der Terrasse aus hatte Marion Färber einen herrlichen Blick auf den Golf von Neapel. Besonders abends saß sie gern hier, trank ein Glas Wein und genoß den Sonnenuntergang. Manchmal war auch Alfredo Pontello bei ihr, in dessen Armen sie dann lag, während sie auf die Stimme des kleinen Mädchens lauschten, das auf dem Nachbargrundstück wohnte.
Auch jetzt sang Ramona wieder. »Che baccan che baccan, fa la pionggia...«, klang es zu ihr hinüber.
Jedesmal, wenn sie Ramonas Stimme hörte, mußte sie an ihre eigene Tochter denken. Sie hatte Selina seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, dennoch vermißte sie sie kaum. Ich bin einfach nicht dazu geschaffen, wie eine Glucke um sie herum zu sein, entschuldigte sie sich vor sich selbst. Sie war überzeugt davon, daß Selina dafür Verständnis aufbrachte.
Es war früher Vormittag. Ein leichter Wind kam von Süden, strich über die Terrasse und trug den Duft nach Blumen und blühenden Sträuchern mit sich. Marion Färber stützte sich auf die Brüstung des Geländers Sie blickte zum Hafen hinunter. Alfredo hatte versprochen, sie an diesem Tag zu besuchen. Sie wollten aufs Meer hinausfahren.
Die Vorfreude ließ die Augen der jungen Frau strahlen. Marion gab sich ganz den Gedanken an ihren Geliebten hin. Alfredo Pontello wohnte drüben in Neapel. Seine Eltern besaßen ein Haus auf dem Vomero-Hügel. Sie war zweimal in diesem Haus zu Gast gewesen und hatte gespürt, daß seine Eltern sie nicht gerade schätzten, doch das machte ihr wenig aus. Alfredo bekannte sich offen zu ihr. Er würde sich von seinen Eltern nicht beherrschen lassen.
»Signora!«
Aus ihren Träumen gerissen, drehte sich Marion um. »Ja, was gibt es, Angela?« fragte sie.
»Sie wollten mir noch sagen, in welchem Zimmer Ihre Tochter wohnen wird, Signora«, erinnerte das Hausmädchen sie leicht vorwurfsvoll.
Marion seufzte auf. »Das hat doch noch Zeit.«
»Signorina Selina kommt am Sonntag!«
Die junge Frau dachte kurz nach. »Geben Sie meiner Tochter das linke Gästezimmer, Angela«, entschied sie. »Vom Fenster aus hat man so einen herrlichen Blick auf die Bucht, das wird ihr gefallen. Und stellen Sie ihr bitte Blumen hinein. Selina liebt Blumen über alles.«
»Gern. Was für welche, Signora?«
Was waren Selinas Lieblingsblumen? Marion nagte an der Unterlippe. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. »Nehmen Sie Rosen«, entschied sie schließlich.
Angela nickte. »Und dann müssen Sie mir noch sagen,was Signorina Selina gern ißt, damit ich den Speiseplan danach zusammenstellen kann.« Sie fühlte, daß sie störte, doch sie blieb unerbittlich. So gern sie für Signora Färber arbeitete, sie konnte nicht verstehen, daß sie sich so gar nicht auf die Ankunft der Tochter zu freuen schien. Sie selbst hätte es kaum erwarten können, ihre Tochter in die Arme zu schließen, doch die Signora stand auf der Terrasse und wartete auf Signor Pontello.
»Ich schreibe es Ihnen heute abend auf.«
»Gut, Signora.« Angela kehrte innerlich seufzend in die Küche zurück. Sie ahnte, daß Marion bis zum Abend ihr Versprechen vergessen haben würde, aber dann mußte sie eben noch einmal fragen. Jetzt wollte sie sich erst um das Zimmer der kleinen Signorina kümmern.
Im Hafen hatte ein schmuckes Motorboot angelegt. Ein junger, weißgekleideter Mann sprang an Land. Er beschattete die Augen mit der Hand und blickte den Berg hinauf. Glücklich winkte ihm Marion zu, obwohl es unmöglich war, daß er sie vom Kai aus sehen konnte. Trotz der vorgehaltenen Hand mußte ihn die Sonne blenden.
Sie ging ins Schlafzimmer und überprüfte vor dem großen, venezianischen Spiegel noch einmal ihr Aussehen. Mit sich zufrieden summte sie ein Lied vor sich hin. Sie war vierunddreißig, fast fünf Jahre älter als Alfredo, doch das sah man ihr nicht an. Obwohl er wußte, daß sie eine zwölfjährige Tochter hatte, ahnte er nichts von dem großen Altersunterschied. Er nahm an, sie hätte die Tochter bereits als Siebzehnjährige bekommen.
Es dauerte noch fast eine halbe Stunde, bis Alfredo Pontello die Villa seiner Geliebten erreicht hatte. Nachdem er die weißen Stufen, die vom Tal aus den Berg hinaufführten, erklommen hatte, blieb er einige Sekunden stehen, um Atem zu schöpfen und sich mit einem silbernen Kamm die schwarzen Haare zurückzukämmen. Erst dann drückte er auf den Klingelknopf.
Angela öffnete ihm und begrüßte ihn auf italienisch. »Die Signora erwartet Sie auf der Terrasse, Signor«, sagte sie und neigte leicht den Kopf.
»Bringen Sie mir bitte etwas Kaltes nach draußen, Angela.« Alfredo hob die Hand und kniff dem Hausmädchen leicht in die Wange. »Sie werden von Tag zu Tag hübscher.«
»Aber, Signor!« Angela errötete. Ihr Rückzug in die Küche ähnelte einer Flucht.
Auf der Terrasse fielen sich Marion Färber und Alfredo Pontello einander in die Arme. Leise flüsterte der junge Mann seiner Geliebten zärtliche Koseworte ins Ohr. Dann hielt er sie etwas von sich ab. »Ich habe eine Überraschung für dich, Amore mio.«
»Was für eine Überraschung?« Marions Augen leuchteten erwartungsvoll auf.
»Ich werde mir Urlaub nehmen. Wir beide fahren über Ostern nach Sardinien. Du weißt, ich besitze dort ein Haus. Es werden wundervolle Wochen werden, Marion.«
»Ich freue mich.« Sie schmiegte sich an ihn, bot ihm ihre Lippen zum Kuß. Dann erstarrte sie und trat einen Schritt zurück. Das Leuchten in ihren Augen erlosch. »Und Selina?« fragte sie sehr leise.
»Was ist mit ihr?«
»Hast du vergessen, daß meine Tochter über Ostern nach Capri kommt?«
Das Gesicht des jungen Mannes umwölkte sich. »Ich habe mich so gefreut, Amore mio. Es war schwer genug, Urlaub zu bekommen, du kennst doch meinen Vater.« Er strich ihr über die Wange. »Kannst du ihr nicht schreiben, sie soll erst in den Pfingstferien kommen? Nein, ruf an, das geht schneller.«
Marion schüttelte den Kopf. »Mein geschiedener Mann fliegt am Montag nach Peru. Ich habe dir ja erzählt, daß David an einem Buch über die Inkas arbeitet. Er kann Selina natürlich nicht mitnehmen.«
»Sagtest du nicht, sie wäre schon einmal in einem Kinderheim gewesen?«
Sophienlust, dachte Marion, das wäre natürlich eine Möglichkeit. Sie wollte schon zustimmen, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. Selina war immerhin ihre Tochter, und sie hatten sich lange nicht mehr gesehen. »Wir könnten sie nach Sardinien mitnehmen«, schlug sie vor. »Selina freut sich ganz sicher auf den Besuch bei mir. Ich möchte sie nicht enttäuschen.«
»Auf einige Wochen mehr oder weniger kommt es doch nicht an«, meinte Alfredo. Er zog Marion in die Arme. »Ruf deinen geschiedenen Mann an, sage ihm, daß es nicht geht und er das Kind woanders unterbringen soll.« Zärtlich berührten seine Lippen ihre Stirn. »Diese Wochen auf Sardinien sollen nur unserer Liebe gehören, Marion.«
»Ich kann ihr nicht absagen.« Die Frau lächelte ihm verführerisch zu. »Es heißt doch immer, ihr Italiener wäret so kinderlieb.« Sie rieb ihre Nase an seiner.
»Ich liebe Bambinos, aber deine Bambina ist zwölf Jahre alt, schon fast eine Signorina, Amore mio. Ich habe mir den Urlaub in den leuchtendsten Farben ausgemalt. Selina würde alles verderben. Sie...« Er schlug sich gegen die Stirn. »Laß sie ruhig kommen, Marion, sie wird eben hier bei Angela bleiben. Ja, Angela kann für sie sorgen!«
Wie auf ein Stichwort trat Angela mit einem Tablett auf die Terrasse. Sie stellte einen Krug mit eisgekühlter Limonade und zwei Gläser auf ein Tischchen.
Alfredo wollte mit ihr sofort über Selina sprechen, doch Marion schüttelte den Kopf. »Wir sind heute den ganzen Tag zusammen, Alfredo. Uns wird sicher eine Lösung einfallen«, meinte sie. »Ich bin nicht dafür, etwas zu überstürzen.«
»Auf eine gute Lösung.« Alfredo hob sein gefülltes Glas. Seine dunklen Augen blitzten.
Bald darauf schlenderten sie zum Hafen hinunter. Marion trug einen breitkrempigen Sonnenhut, der sie noch jünger erscheinen ließ. Sie wirkte wie ein junges Mädchen.