Graues Land. Michael Dissieux. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Dissieux
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969441619
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Hütte zu sein. Irgendwo anders auf dieser Welt, die sich weitergedreht hat.

      Vielleicht in Devon in einer der Bars am Stadtrand, die einen üblen Ruf genießen, jetzt aber genau der richtige Ort für mich wären.

      Seltsamerweise sehe ich mich in Gedanken in einer schummrigen Ecke sitzen, das Gesicht in Schatten gehüllt, während der Schein einer roten Lampe über meine Hände auf dem Tisch streichelt und die Whiskeyflasche in ihnen in goldenen Glanz hüllt.

      Sogar die von Zigaretten und Schweiß geschwängerte Luft kann ich riechen.

      Verdammt, ich beginne, den Verstand zu verlieren.

      Wie kann ich an eine dreckige Spelunke denken, während der einzige Ort auf der Welt, an dem ich jetzt sein möchte, Sarahs Schlafzimmer ist?

      Doch an sie will ich nicht denken. Nicht an diesem Ort.

      Wie oft waren wir die Holzstufen zur Ladentür hinaufgestiegen.

      Lachend, Hand in Hand. Und mit Murphys braunen Lebensmitteltüten waren wir wieder hinuntergestiegen, den Geschmack von heißem Tee auf der Zunge und Murphys abgenutzte Geschichten im Ohr, die er uns jedes Mal erzählte, meist etwas anders ausgeschmückt als beim letzten Mal, in der Hoffnung, wir würden es nicht bemerken.

      Sarah trug ihren beigefarbenen Mantel und …

      »Murphy.«

      Meine Stimme erscheint mir wie das Schreien eines Ungetüms in einem kleinen Raum.

      Erschrocken ducke ich mich und beobachte den Waldrand hinter dem Haus.

      Die Dunkelheit zwischen den schwarzen Bäumen dräut wie eine mahnende Wand.

      Ich bilde mir ein, Schatten darin zu erkennen, die flink umherhuschen.

      »Murphy. Ich bin es. Harv.«

      Diesmal rufe ich etwas leiser. Meine Hände legen sich hart um den Gewehrkolben.

      In Gedanken schweife ich zur finsteren Front der Bäume hinter dem Laden zurück.

      Kein Vogel ist zu hören. Kein Zweig knackt unter dem Gewicht eines Hufes. Nichts raschelt in den Gräsern und Büschen.

      Irgendjemand hatte den Stecker der Welt herausgezogen.

      Der Wald wirkt bedrohlich, als würden sich all die finsteren und verderbten Schatten der Hölle hinter der Blockhütte auftürmen.

      Als ich zum Obergeschoss blicke, glaube ich schwachen Lichtschein zwischen den Ritzen eines der Holzläden flackern zu sehen.

      Ich starre auf das graue, morsche Holz, als könnte ich durch pure Anstrengung in den dahinterliegenden Raum sehen.

      »Verdammt, Murphy …«

      Meine Worte werden von kaltem Schrecken erstickt, der sich auf mich stürzt, als etwas Glänzendes zwischen den Holzläden erscheint und das trübe Licht des Tages reflektiert. Der Laden wird ein kleines Stück auseinandergedrückt, und ein Schatten verdeckt das flackernde Licht dahinter. Unwillkürlich trete ich einen Schritt zurück.

      »Was willst du, Harv«, brüllt Murphy. Erst jetzt erkenne ich in der blinkenden Reflexion den Lauf eines Gewehrs, der offensichtlich auf mich gerichtet ist.

      Noch nie in meinem Leben hatte jemand mit einer Waffe auf mich gezielt. Im Krieg hatte ich im Lazarett gedient, so waren mir die einschneidenden Entscheidungen über Töten und getötet werden erspart geblieben.

      Unterhalb meiner Gürtellinie zieht sich der Rest meines Körpers zu einem kleinen, kalten Eisklumpen zusammen.

      »Ich wollte sehen, wie es dir geht«, schreie ich zurück. Meine Stimme erscheint mir etwas zu hoch. Fast so schrill wie die eines aufgeregten Mädchens.

      Der Lauf der Waffe bleibt beharrlich auf mich gerichtet.

      »Verflucht, nimm das Gewehr runter«, rufe ich. So sehr ich mich auch bemühe, es gelingt mir nicht, meiner Stimme ihren gewohnt festen, leicht schleppenden Klang zu verleihen.

      »Wer sagt mir, dass du das bist, Harv«, hallen Murphys Worte durch die Stille.

      Ich kann mir ein bitteres Lachen nicht verkneifen.

      »Was?«

      »Woher soll ich wissen, dass du das bist, Harv Jennings?«

      Mein Blick fällt erneut auf das graue Gemälde des Waldes hinter dem Haus. Irgendetwas zwischen den dunklen Stämmen zieht mich in seinen Bann.

      »Ich stehe doch hier, du verdammter Ochse«, schreie ich und breite die Arme aus, wobei ich unbewusst mit dem Gewehr auf das Haus ziele.

      »Nimm das Gewehr runter, Harv, oder ich puste dir die Eingeweide heraus.«

      Ich verharre mitten in der Bewegung und starre ungläubig auf den dunklen Stahl von Murphys Waffe. Die Luft um mich herum scheint sich zusammenzuziehen und mir das Atmen zu erschweren. Die Hütte, der Parkplatz und Murphys alter Ford verschwimmen vor meinen Augen als flimmerte Asphalt unter der Sonne.

      Es fällt mir schwer zu verstehen, was hier geschieht. Ich befinde mich inmitten eines abartigen Gemäldes, das der Teufel selbst mit dem Blut seiner Sünder gemalt hat.Es gibt nichts mehr, an das ich mich klammern kann. Nichts mehr, das mir vertraut vorkommt.

      Selbst Murphys Stimme klingt wie die Verzweiflung eines alten Mannes. Mein Freund versteht ebenso wenig, was vor sich geht, wie ich. Oder aber er hat schlicht weg den Verstand verloren.

      »Was denkst du denn, wer ich bin?«, frage ich, während ich den Lauf meiner Waffe zu Boden richte.

      Lange Zeit erhalte ich keine Antwort. Lediglich der zitternde Lauf des Gewehrs beweist mir, dass mich Murphy nach wie vor durch den Spalt im Holzladen beobachtet.

      »Vielleicht bist du einer von Ihnen«, sagt er schließlich mit einer Stimme, die einem resignierenden Seufzen gleicht.

      »Ich bin nicht dumm, Harv. Ich habe Sie gesehen. In der Nacht. Sie sind bis auf die Veranda gekommen.«

      »Wer sind Sie?«

      Wieder keine Antwort.

      Dann antwortet Murphy so leise, dass ich ihn kaum noch verstehen kann. Jetzt höre ich eindeutig eine tief sitzende Furcht in seinen Worten.

      »Diese widerlichen Ungeheuer. Sie sind mit den Beben gekommen. Irgendetwas hat sie aus der Erde gespült.«

      In meinem Kopf erscheint plötzlich das Bild des Shoggothen, den ich auf der Wiese hinter meinem Haus gesehen hatte.

      »Es gibt keine Ungeheuer«, rufe ich und fühle im selben Augenblick eine tief empfundene Schuld in mir hochkommen.

      Ein beißendes Gefühl, das mein ganzes Leben schon in mir aufgestiegen war, wenn ich zu einer Lüge greifen musste.

      »Erzähl mir keinen Mist. Vielleicht bist du ja eines der Ungeheuer, das sich Harvs Körper übergeworfen hat.«

      Murphys Stimme überschlägt sich, so dass ich Schwierigkeiten habe, die letzten Worte zu verstehen.

      »Hast du den Verstand verloren?«, frage ich und bereue es im nächsten Augenblick auch schon.

      Ich denke, Murphy in unserer Situation zu reizen wäre das Dümmste, das ich tun kann.

      »Wie heißt deine Frau?«

      Murphys Stimme klingt plötzlich ernst und konzentriert. Ich kann förmlich seine zu schmalen Schlitzen verengten Augen sehen, mit denen er mich durch die Ritzen des Holzladens taxiert.

      »Sarah«, brülle ich. Und in Gedanken `du verfluchter Hornochse´.

      Unter dem Ford beginnt das trockene Laub zu rascheln, als ein Windstoß hindurchfährt.

      Unwillkürlich zucke ich zusammen und mache einen Schritt zur Seite.

      Braune und schwarze Blätter tanzen in kleinen Pirouetten über den brüchigen Asphalt und bleiben sterbend zu meinen Füßen liegen.

      Ein Zweig fällt