Reich an Pferden war das Tal, in dem der Stamm hauste. Die einen, behaart und stämmig, waren zugleich mit den Menschen aus den Steppen hierhergekommen. Die anderen, zierlicher und mit langen Beinen, die an Geschwindigkeit ihre nordischen Vettern weit übertrafen, waren schon vorher in dieser Gegend gewesen. Die Leute vom Fluß jagten beide Gattungen, um sich von ihrem Fleische zu nähren.
Auch Rinder fanden sich in den Wäldern, und sie gehörten zu den gefürchtetsten Gegnern des Menschen. Verfolgt, zögerten sie nicht, ihn anzugreifen und mit ihren spitzen Hörnern auf den Boden zu nageln.
In heißen Sommern kamen oft katzenartige Raubtiere, die den großen Fluß vom Süden her durchschwammen und einen Jagdzug gegen die Pferde und Renntiere begannen, unter denen sie große Verheerungen anrichteten. Dann ergriff die friedlichen Pflanzenfresser des Tales eine Panik, und sie flüchteten weit fort. Die Menschen am Flusse machten Jagd auf diese Raubtiere, nicht um sie zu erlegen, nur um sie zu zwingen, ihr Gebiet zu verlassen. Darum versuchten sie auch nicht, die Tiere zu überraschen, sondern verscheuchten sie, indem sie laute Schreie ausstießen und auf Trommeln schlugen, während die Weisen des Stammes versöhnliche Sprüche hersagten, die diesen ungebetenen Gästen die herrlichsten Jagden in anderen Ländern verhießen, und mit denen ihnen unter lebhaftem Bedauern über die notwendig gewordene Trennung eine glückliche Heimreise gewünscht wurde.
Die Wölfe waren gefürchtet, denn sie vernichteten die Tiere, die der Stamm zu seiner Ernährung benötigte. So war es auch ein erbarmungsloser Krieg, den die Söhne des Bären gegen sie führten, obwohl ihr verachtetes Fleisch nicht gegessen werden durfte. Ihr Fell mit den rauhen Haaren wurde aber doch in den Wohnstätten verwendet. Auch die Greise, deren Gelenke schon ihre Geschmeidigkeit verloren hatten, trugen es über das Renntierwams um die Schultern gelegt.
Wertvollere Felle, mit denen Männer und Frauen ihre Kleidung verzierten, lieferten Zobel, Hermeline und Füchse. Sie bildeten auch ein beliebtes Tauschobjekt, das von den Händlern, die alle zwei Jahre das Tal besuchten, stark begehrt wurde.
Schließlich lieferte auch der Fluß seinen Tribut an jene ab, die seine Ufer bewohnten. Er wimmelte von Forellen, Lachsen und Hechten, die mit Harpunen erlegt wurden. Die kleinsten Kinder vergnügten sich daran, mit bloßer Hand die Gründlinge und unter den Steinen Krebse zu fangen.
So war das Leben des Stammes in einem noch erträglichen Klima gesichert, dies verdankte man – es gab keine einzige Stimme, die das bezweifelt hätte – einzig und allein der großen Weisheit des Stammvaters, des unermüdlichen, klugen und mächtigen Bären, der die Seinen – erst später wird man erfahren, um welchen Preis – an den gütigen Ufern des Flusses angesiedelt hatte.
Wertvoller war aber noch, daß er das glückliche Bündnis des Stammes mit all den Geistern geschlossen hatte, die das Wasser, die Höhlen, Sträucher und Wälder bewohnen, den Geistern, die nachts umherstreifen, sich auf die Tiere werfen und sie zu Tausenden töten, den Regen zurückhalten oder herabstürzen, die Flüsse austrocknen oder aus den Ufern treten lassen, die gefühllos Männer, Frauen und Kinder heimsuchen. Sie bezeugen auf tausenderlei Art ihre Wut, ohne daß man imstande wäre, die Beleidigung zu erraten, die sie bestrafen wollen. Dank den klugen Lehren des Ahnen, die von den Weisen des Stammes als das kostbarste Gut bewahrt und von Generation zu Generation in geheimnisvoller Weise weitergegeben wurden, war diese Harmonie zwischen der Gesellschaft der Menschen und der Welt der allgegenwärtigen Geister, deren eifersüchtiges Übelwollen so schwer abzuwehren ist, geschaffen worden. Die Weisen wußten die Beschwörungsformeln, die Worte, die zu sprechen und die zu verschweigen waren, sie kannten die Zeremonien der Dankgebete und jene der Reue, die Tage, an denen es günstig war, zur Jagd aufzubrechen, die heiligen Tänze, durch die man das entfernte Wild herbeizwang, wie die magischen Darstellungen, die es in seinem Revier festhielten. Sie allein verstanden es, die Toten mit allen vorgeschriebenen Riten zu umgeben, damit ihr Geist nicht den Lebenden schade, kurz alles war ihnen bekannt, was zum Wohle einer menschlichen Gemeinschaft unerläßlich schien, einer Gemeinschaft, die rings von unsichtbaren Feinden umgeben war, die sie belauerten, um bei der ersten Unterlassung oder dem ersten Fehler über sie herzufallen und sie zu vernichten.
II
Und trotz alledem vermochten die Leute vom Fluß eine dunkle Ahnung nicht zu bannen, daß ihr Leben, die Existenz des Stammes in jedem Augenblick bedroht sei. Der Mensch sah sich allein im Mittelpunkt einer feindlichen Welt. Unter den Tieren zählte er nicht eines als Freund. Er kannte sie nur, um sie zu töten. Zwischen ihnen und ihm war ewiger Krieg, ein Kampf, der bald mit offener Kraft, bald mit Heimtücke und List geführt wurde. Sobald er seine Behausung verließ, setzte der Mensch sich tausend Gefahren aus. Hinter den Bäumen und den Felsen lauerten stumme Feinde auf ihn, und der Gedanke, daß es immer so bleiben werde, solange es Menschen und Tiere geben würde, bedrückte ihn an manchen Tagen.
Und was gab es außerdem noch für schwer zu ertragende Leiden und Plagen!
Krankheiten kamen über den Stamm, von unsichtbaren Feinden gesandt, über die man ganz im unklaren war. Sie dezimierten die Söhne des Bären. Wohl vermehrten die Weisen ihre versöhnenden Riten, doch die Widersacher waren geschickt genug, sich auch dem mächtigsten Zauber zu entziehen. Wie die Fliegen beim ersten Frost, so starben die Leute vom Fluß.
Eine noch gefährlichere Plage kam über sie. Die Furcht zog in das Tal ein und nahm von ihren Seelen Besitz. Eine Katastrophe, die man herannahen fühlte, ohne zu wissen, von welcher Art sie sein werde, würde in naher Zeit den ganzen Stamm vollkommen vernichten. Angstbeklommen zitterte man in den Hütten, man wagte sich nicht vor die Türen, ja, man litt lieber Hunger, als den Gefahren entgegenzutreten, die draußen warteten. Und wieder bemühten sich die Weisen, die unseligen Ursachen dieses Zaubers zu entdecken. Dieser Zustand währte manchmal einen ganzen Monat, manchmal auch zwei. Erst allmählich kehrte die Ruhe zurück, grundlos, wie Sonnenschein nach Regenwetter, und die Leute vom Fluß verloren selbst die Erinnerung an den Schrecken, der sie in ihre Wohnstätten gebannt hatte.
Einige blieben aber ständig durch Gesichte und Angst geplagt. Sie sahen Dinge, die alle anderen nicht wahrnehmen konnten; sie hörten Worte und Geräusche, die allen rings um sie entgingen. Untätig blieben sie die ganzen Tage, aber trotzdem behandelte man sie mit Güte, und sie nahmen an der Nahrung ihrer Stammesbrüder teil, ohne bei deren Erwerb mitgeholfen zu haben.
Manchmal packte einen dieser Besessenen ein Anfall. Er sank wie hingemäht zu Boden; rötlicher Schaum entquoll seinen Lippen. Mit Armen und Beinen stieß er im Krampf um sich. Lange Zeit blieb er wie leblos. Die Weisen begannen den Unglücklichen zu behandeln. Sie berührten ihn mit einem Renntierhuf und gaben ihm einen Trank, aus Pflanzen bereitet, deren Mischung nur ihnen bekannt war. Dann versuchten sie durch Beschwörungsformeln den Geist zu verjagen, der ihn quälte. In ernsten Fällen, wenn alles vergeblich war, wurde zur Operation geschritten. Es blieb nichts übrig, als eine Öffnung in den Schädel des Besessenen zu bohren, durch die der böse Geist zu entweichen vermochte. Man verfuhr dabei auf folgende Weise:
Die drei Weisen ließen zuerst die vorgeschriebene Beschwörung ergehen. Wenn die Wirkung nicht so war, wie man erhoffte, nahm einer von ihnen einen hierfür besonders zugespitzten Stein und setzte ihn, während die beiden anderen den Kranken festhielten, mit aller Kraft auf den Schädel des Unglücklichen, wo er ihn dann zwischen seinen Händen so rasch als möglich drehte, während ein anderer Tropfen auf Tropfen heißen aromatischen Wassers auf die Haut fallen ließ, nachdem auch darüber die notwendigen Formeln gesprochen waren. Diese heikle Operation wurde mit der äußersten Langsamkeit durchgeführt. Sobald sich das Loch in der Schädeldecke zu formen begann, hielt der Weise inne, um erst am nächsten Tage fortzufahren. Er stillte das Blut mit Hilfe gewisser Kräuter, mit denen die Jäger ihre Wunden verbanden. Es brauchte oft sechs bis acht Tage, bevor die Schädeldecke durchbohrt war.
Es kam vor, daß der Kranke gesundete. Es kam häufiger vor, daß er starb. In diesem zweiten Falle war es den Leuten vom Fluß klar – selbst die Schwerfälligsten und Stumpfesten begriffen es – daß die Zaubersprüche nicht in vorgeschriebener Weise gesprochen worden waren.