Kinder des Zufalls. Astrid Rosenfeld. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Rosenfeld
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311700012
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sagte er. »Charly.«

      Wie jeden ersten Dienstag im Monat war er morgens um fünf in seinen Truck gestiegen, um wie jeden ersten Dienstag im Monat vier Stunden nach Myrthel Spring zu fahren.

      Seit seinem sechzehnten Lebensjahr gehörte die Dienstagstour zu Terrys Pflichten. Postamt, Viehfutter, Lebensmittel.

      120 Dienstage, kein einziges Mal hatte sich etwas Außergewöhnliches ereignet. Natürlich, sein Leben hatte sich verändert: Vor neun Jahren war die Mutter gestorben, noch während der Dürre. Zeiten der Entbehrung. Terrys Vater Harold Finsher war es gelungen, die 8000 Hektar zu erhalten. Zu einem hohen Preis: 160 Rinder, 21 Pferde, seine Frau und sein Verstand. Im Frühling 1957 setzte Regen ein. Schon zwei Jahre später sah es aus – zumindest auf den ersten Blick –, als wäre nie etwas geschehen. Harte Arbeit, ein Kredit und ein Quäntchen Glück gaben Harold zurück, was die Dürre ihm genommen hatte – fast alles. Das Grab der Frau und die Tage, an denen Harold Finsher sich in der Vorratskammer einsperrte, nackt auf dem Boden saß und If You’re Happy and You Know It sang, dabei in die Hände klatschte, bis sie brannten, erzählten davon, dass sehr wohl etwas geschehen war.

      Sechs Jahre nachdem Terry zur Halbwaise geworden war, hatte er Diana geheiratet. Vor einem Jahr waren die Zwillinge zur Welt gekommen. Ja, das Leben hatte sich verändert seit seiner ersten Dienstagsfahrt. Nicht nur seines, auch das der anderen. In Myrthel Spring erfuhr er, wer gestorben war und wie viele Kinder geboren worden waren. Welche Unfälle sich in dem 1300-Seelen-Ort ereignet hatten, welche Krankheiten umgingen und welche Heldentaten vollbracht worden waren. Aber das alles empfand Terry nicht als außergewöhnlich. So war es nun einmal – der Lauf der Dinge. Das Leben. Die blonde Frau, die neben ihm saß – das war etwas Außergewöhnliches.

      »Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«, hatte er sie gefragt.

      Er konnte: Sie hatte Hunger und wollte sich ausruhen.

      »Ich heiße Terry«, sagte er.

      »Wie?«, fragte sie.

      Der Motor und das Radio übertönten seine Stimme.

      »Terry. Ich heiße Terry.«

      Sie lächelte, und da fragte er sich, ob er ihr erzählen sollte, dass er verheiratet war und zwei Kinder hatte und auf der Ranch seines Vaters, die eines Tages seine Ranch sein würde, wohnte und arbeitete. Ob er ihr sagen sollte, dass das Leben hart war, dass er seit fast zehn Jahren jeden ersten Dienstag im Monat nach Myrthel Spring fuhr. Und dass sie sein erstes außergewöhnliches Erlebnis war. Dass er ihren Rock hübsch fand und ihre Frisur und ihr Gesicht. Dass er gerne wissen würde, wo sie herkam. Dass er noch nie mit einer Frau wie ihr, einer Frau mit platinblonden Haaren und einer so tief ausgeschnittenen Bluse, gesprochen hatte. Dass er Texas, seine Heimat, liebte und hoffte, dass sie keine Kommunistin war.

      Aber all das sagte er nicht, sondern: »Carmen ist klimatisiert.«

      »Was?«, fragte sie.

      »Carmen. Das Diner. Da gibt es eine Klimaanlage.«

      Steve, Craig und Dave saßen am Tresen, erzählten sich die immergleichen Geschichten. Carmen goss Kaffee nach. Ein ganz normaler Dienstag in Carmen’s Diner.

      Es wurde still, als Terry und Charlotte eintraten. Auch Steve, Craig, Dave und Carmen spürten, dass hier etwas Außergewöhnliches geschah.

      Terry grüßte flüchtig und führte Charlotte in die hinterste Nische. Kaum saßen sie, überlegte er, ob er Charlotte den anderen hätte vorstellen müssen? Doch was hätte er sagen sollen? Sie stand am Straßenrand. Sie heißt Charlotte. Sie hat Hunger.

      Und dann hätte der alte Steve von seiner Zeit in Korea angefangen, Dave hätte schmutzige Witze gerissen und Craig alles getan, um Terry lächerlich zu machen.

      Carmen kam an ihren Tisch und musterte Charlotte.

      »Das ist Carmen. Ihr gehört Carmen«, sagte Terry. »Und das ist Charlotte, sie … sie ist … sie ist eine Reisende.«

      Carmen lächelte, aber die hochgezogenen Augenbrauen nahmen ihrem Lächeln jede Freundlichkeit.

      »Wie geht es Diana?«, fragte sie Terry und sah dabei Charlotte an, die Augenbrauen noch immer hochgezogen, das Lächeln verschwunden.

      »Gut.«

      »Und den Zwillingen?«

      »Auch gut.«

      Die erste Tasse Kaffee tranken sie schweigend. Hastig aß Charlotte eine Portion Spiegeleier mit Speck, während die Jukebox Buck Owens’ I’ve Got a Tiger by the Tail spielte.

      Die zweite Tasse Kaffee.

      Terry räusperte sich. »Also, Charlotte … Charly, woher kommen Sie?«

      »Sie geben keine Ruhe, was?« Die Fremde lachte.

      So ein Lachen hatte Terry noch nie gehört, die Frauen, die er kannte, lachten anders. Er wollte ihre Kehle berühren, diesem Lachen näherkommen, es einfangen.

      »Warum wollen alle immer wissen, wo man herkommt? Ist das so wichtig? Ist es nicht. Fragen Sie mich doch lieber, wo ich hinwill. Das ist wichtig. Wo jemand hinwill.«

      Er brachte es nicht fertig, ihr zu widersprechen, ihr zu sagen, dass es sehr wohl wichtig war, wo man herkam. Dass er nicht er wäre, wenn er aus Chicago oder New Orleans käme. Dass dann alles anders wäre und er ein anderer. Und dass woher man kam, ja nicht nur ein Ort sei, und man die Gegenwart nicht von der Vergangenheit lösen könne. Aber solche Dinge zu erklären, lag Terry nicht.

      »Also, Charly, wo wollen Sie hin?«, fragte er schließlich.

      »El Paso. Zum Bahnhof. Und dann mit dem Zug nach Kalifornien.«

      »Kalifornien. Und was … was wollen Sie in Kalifornien?«

      »Das ist ja ein richtiges Verhör.« Wieder dieses Lachen. »Was ich in Kalifornien will?« Charlotte griff nach seiner Hand, legte sie auf ihren Busen. »Ich will, dass es schnell schlägt. Dass ich aufwache und es schnell schlägt. Verstehen Sie?«

      Er verstand nicht, nickte aber.

      Sie stieß seine Hand weg. »Wie lange brauchen wir nach El Paso?«

      »Wir?«

      »Wie lange?«

      »Vier Stunden, ungefähr. Fünf vielleicht.«

      »Also kann ich auf Sie zählen?«

      »Was …«

      »Ich kann ja schlecht zu Fuß nach El Paso. Helfen Sie mir?«

      Diana würde sich Sorgen machen. Vielleicht würde sie jemanden von der Ranch nach Myrthel Spring schicken, und dann würde irgendwer erzählen, dass Terry Carmen’s Diner vor Stunden verlassen hatte. Zusammen mit einer blonden Frau.

      Eines Tages würde es ein Telefon auf der Ranch geben, dann würde er Diana anrufen und sagen: »Eine blonde Frau braucht meine Hilfe. Sie kann ja schlecht zu Fuß nach El Paso. Und ich würde sie auch fahren, wenn sie hässlich wäre.« Eines Tages, aber was nützte ihm das jetzt. Er musste eine Entscheidung treffen. Eigentlich lag ihm das: Welche Pferde zu behalten, welche zu verkaufen waren. Ob man die Herde aufstocken sollte. Wie viele Cowboys man zum roundup im Frühling und im Winter anheuern musste. Aber jetzt zögerte er. Er wollte Ja sagen. Er wollte Nein sagen. Das Richtige tun. Er wollte Charlys Lachen hören und sie noch einmal berühren.

      »Terry? Kann ich auf dich zählen?«

      Im Radio sprach man über den Vietnamkrieg. Über Johnsons Entschluss, die Anzahl der Soldaten auf 125000 aufzustocken. Man würde den Vietcong das Fürchten lehren. Absolute Überlegenheit demonstrieren. Der Präsident hatte gesagt: »Wenn die Kommunisten erst einmal so wie wir wissen, dass eine Gewaltlösung unmöglich ist, ist eine friedliche Lösung unvermeidbar.«

      »Gibt es keine Musik?«, fragte Charlotte. »Immer diese Kriege, ständig ist Krieg.«

      »Ein Freund von mir ist in Vietnam. Navy.«

      »Ich