Unterwegs mit dir. Sharon Garlough Brown. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sharon Garlough Brown
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961222377
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für das, was der Junge ihr genommen und was er ihr hinterlassen hatte. Ihre Mutter fuhr mit ihr in die Klinik, bevor „es“ für alle offensichtlich wurde, und Mara verpasste nur zwei Schultage. Sie sprachen nie wieder darüber. Doch die Stille schrie laut.

      Zweieinhalb Jahre später war es ein anderes Bett, ein anderer Mann – dieses Mal verheiratet –, der ihr versicherte, sie sei alles, was er sich je gewünscht hätte, und ihr versprach, sie zu seiner Frau zu machen, wenn sie nur etwas Geduld hatte. Und so brachte sie ihr gemeinsames Kind zur Welt. Er besuchte sie manchmal an den Wochenenden, und Jeremy nannte ihn „Papa“.

      Mara wartete und wartete. Aber er entschied sich nicht für sie. Als seine Frau irgendwann von seiner Geliebten und dem dreijährigen Jungen erfuhr, drohte sie ihr Gewalt an. Und er auch. Er schrie sie an, schwenkte die Fäuste, befahl der „nichtsnutzigen Schlampe“, sie solle verschwinden und das Kind mitnehmen. Eine Busfahrt durch die Nacht brachte sie von Ohio in eine Stadt in Michigan, wo niemand sie kannte. Weiter als bis nach Kingsbury war Mara mit dem Geld, das er ihr vor die Füße geworfen hatte, nicht gekommen.

      Nie hatte sie den Augenblick vergessen, als sie aus dem Bus eine Welt betrat, die nach Zigarettenrauch und Schweiß stank. Sie war desorientiert und verwirrt, gedanklich immer noch mit der zornigen Auseinandersetzung vom Vortag beschäftigt. Jeremy war müde und hungrig. „Ich will meinen Hasi“, sagte er daumenlutschend.

      „Dein Hasi ist nicht da. Ich kaufe dir einen neuen.“ Wieso nur hatte sie vergessen, Jeremys Plüschhasen mitzunehmen? In panischer Hast hatte sie die Wohnung verlassen und nur ein paar Kleidungsstücke eingepackt.

      Er starrte sie mit den haselnussbraunen Augen seines Vaters an. „Ich will aber meinen Hasi!“

      „Ich hab dir doch gesagt, Jeremy, ich kauf dir einen neuen Hasi.“ Sie zog an seiner Hand, und er trat nach ihr – ihr wunderbarer kleiner Junge mit den dunklen Locken war das gespuckte – und spuckende – Ebenbild des Mannes, der sie beide so schmählich im Stich gelassen hatte. Maras Augen füllten sich mit Tränen.

      Jeremy begann zu jammern. „Ich will keinen neuen Hasi. Ich will den Hasi von Papa.“

      „Aber du kannst Papas Hasi nicht haben, okay?“ Sie schaute sich im Busbahnhof um und überlegte, was sie nun machen sollte. Wo sollten sie hingehen? Er schrie noch lauter. „Ich will zu Papa! Ich will zu Papa!“

      Sie schlug ihn. Sie verpasste ihm tatsächlich eine Ohrfeige. „Sei still! Papa ist nicht da! Dein Hasi ist auch nicht da! Du wirst Papa und Hasi nie wieder sehen!“

      Noch immer war es Mara nicht gelungen, den Anblick seines kleinen, verängstigten Gesichts aus ihrer Erinnerung auszulöschen. Bis zum heutigen Tag verfolgte die Erinnerung sie, und ihre Bemühungen, sie auszulöschen, machten sie umso lebendiger. Jeremy hatte aufgehört zu weinen und fest ihre Hand umklammert. 27 Jahre später spürte Mara immer noch den Griff seiner kleinen Finger um ihre.

      Während sie mit Jeremy an der Hand ziellos im Busbahnhof herumlief, sah jemand, dass sie weinte – ein Engel mit Namen Jo. „Alles in Ordnung, Liebes?“, fragte die Frau. „Sie wirken so ver­loren.“

      Jo war groß, rund, weich und mitfühlend, und für den Augenblick waren Maras Ängste verschwunden.

      „Ich hab meinen Hasi und meinen Papa verloren“, sagte Jeremy und blickte mit zitternder Unterlippe in das Gesicht dieser freund­lichen Fremden. „Und ich hab Hunger.“

      Mara hatte Jos Nachnamen nie erfahren, aber noch Jahre später dankte sie Gott für ihre Hilfe. Jo kaufte ihnen Frühstück und brachte sie zum Crossroads-Haus, wo andere Schutzengel ihnen eine sichere Unterkunft, Essen und einen neuen Hasi für Jeremy boten. Und neue Hoffnung. Ihre Großzügigkeit wies Mara auf Jesus hin, und irgendwann öffnete sie sich für den Glauben. Ihr war bewusst gewesen, wie dringend sie einen Neuanfang brauchte, und es war ihr egal, wenn Gott sie nur aus Mitleid annahm, aus Erbarmen. Wenigstens schickte Gott sie nicht weg.

      Doch jetzt ließen die Worte von Jesus in ihrer Vision sie nicht los: Ich habe dich gewählt, Mara. Kommst du mit mir?

      Mara war noch nie für irgendetwas gewählt worden. Nie. Und sie war nicht sicher, ob Jesus sie tatsächlich gewählt hatte.

      Sie war überhaupt nicht sicher.

      Als Mara nach Hause kam und ihren Anrufbeantworter abhörte, freute sie sich über eine Nachricht von Jeremy: „Hey, Mama! Abby ist heute zu Besuch bei ihren Eltern. Wie wäre es, wenn ich zu dir rüberkomme? Ich könnte chinesisches Essen oder Pizza mitbringen. Wie du magst. Ruf mich an, okay?“

      Mara entschied sich für Cashew-Hühnchen und begrüßte Jeremy wenig später an der Tür. „Wo sind Tom und die Jungs denn?“, fragte Jeremy und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

      „Sie sind zelten und kommen morgen Abend zurück.“ Sie setzten sich mit dem Essen an den Tisch. „Wie schön, dass du hier bist, Jerry“, sagte Mara, während sie Teller und Gläser aus dem Schrank nahm.

      „Weißt du, neulich abends klangst du so niedergeschlagen. Ich dachte, du könntest ein bisschen Gesellschaft gebrauchen.“

      Mara war nicht sicher, wie viel sie preisgeben sollte. Dawn hatte ihr geholfen, ihre tiefe emotionale Bindung zu ihrem ältesten Sohn zu erkennen. Es stimmte – sie fühlte sich Jeremy näher als ihrem Mann. Jeremy gehörte ihr Herz, wie es Tom nie gehört hatte, und sie musste Wege finden, um loszulassen. Aber vielleicht nicht heute. Sie seufzte. „Ich habe das Gefühl, festzu­stecken.“

      „Mit Tom?“, fragte er. Jeremy schüttelte den Kopf. „Ehrlich, Mama, ich weiß nicht, warum du bei ihm bleibst.“

      Mara wusste sehr genau, warum. Ihre Beziehung war für beide von Vorteil, zumindest im Augenblick. Sie schätzte, dass das noch fünf Jahre so bleiben würde, maximal. Sie würden Brians Highschoolabschluss abwarten, und das wäre es dann. Tom brauchte Mara, damit sie für die Jungen da war und er seine Geschäftsreisen machen konnte. Mara brauchte Tom und das Geld, das er nach Hause brachte. Sie hatte keine Ausbildung und keine Möglichkeit, selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Sie war immer nur Mutter gewesen. Und wie sie sich immer wieder einredete, war sie sicher keine tolle Mutter. Meistens würde sie sich nicht einmal als „gute“ Mutter bezeichnen. Sie wusste, für welches Elternteil sich die Jungen entscheiden würden, wenn sie und Tom sich trennten, und sie war noch nicht bereit, sie zu verlieren. Noch nicht.

      „Mama?“

      „Entschuldige, Jerry.“ Sie setzte sich an den Tisch und verteilte das Essen auf die Teller.

      „Ich sagte, ich weiß gar nicht, warum du bei ihm bleibst.“

      „Finanzelle Sicherheit.“ Das war zwar eine ehr­liche Antwort, entsprach aber nicht ganz der Wahrheit. „In meinem Leben bin ich immer wieder davongelaufen, wenn es schwierig wurde“, fügte Mara leise hinzu. „Wenn Tom beschließt, mich zu verlassen, dann ist das eine Sache. Aber ich werde nicht gehen.“ Außerdem, dachte sie, möchte Gott nicht, dass Ehepaare sich scheiden lassen. Sie würde nichts mehr tun, was Gott enttäuschte. Schnell wechselte sie das Thema. „Aber ich will nicht über Tom reden. Erzähl mir von dir.“

      In den folgenden Stunden unterhielten sie sich über Jeremys neuen Job und das Baby, das im Januar auf die Welt kommen sollte. Während Mara ihm zuhörte, konnte sie nur staunen, dass er sich zu einem so gesunden, verantwortungsbewussten jungen Mann entwickelt hatte. Sie war von Herzen dankbar dafür, dass sie sein Leben nicht ruiniert hatte.

      „Ich bin so stolz auf dich, Jeremy“, sagte Mara, als sie sich zum Abschied an der Haustür umarmten. „Du bist ein toller junger Mann geworden.“ Obwohl du mich als Mutter hattest, fügte sie in Gedanken hinzu.

      Jeremy legte seine Hände an ihr Gesicht und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich hatte eine Mutter, die mich liebte“, erklärte er. „Und das ist viel mehr, als die meisten Kinder haben.“

      Mara wartete, bis er davongefahren war, bevor sie in Tränen ausbrach.

      Den Sommer vor ihrem ersten Highschooljahr verbrachte