Das Weben erschien Gabriel wie eine komplizierte Angelegenheit und er staunte über die Geschicklichkeit der Frauen, während sie die Rohwolle mit aus Palmblättern hergestellten Karden auskämmten und sie in einem hypnotischen Rhythmus spannen. Sie trennten die Fäden ausschließlich per Hand von den Wollbüscheln. Ihre Finger bewegten sich so schnell und akribisch, als ob sie auf einem komplizierten Instrument musizierten. Die Garnknäuel wurden in Töpfen gefärbt, in denen Gebräue aus satten Erdfarben sprudelten – Indigoblau aus den Schalen von Meeresschnecken, Braun aus der Tonerde der Schluchten, Gelb aus Safran, Rot aus dem purpurnen Bergwurm – und dann zum Trocknen auf Gitter aus sich kreuzenden Ästen gehängt. Die Weberinnen legten einfache, aus Stöcken und Seilen gebaute Gurtwebgeräte an und sangen, während sie arbeiteten: einfache Lieder über die Sterne, die Fülle der Oase, die Einsamkeit der Wüste. Es war ein aus Notwendigkeit geborenes Ritual, denn die Frauen stellten diese Textilien aus Zweckmäßigkeit und für Wärme her; dennoch lag eine immense Anmut darin.
Das Weben war eine Möglichkeit, um Emotionen auszudrücken, und diese waren im fertigen Stück offenkundig. Wenn eine Frau gerade einen Ehemann genommen hatte und guter Laune war, zeigte ihr Tuch abstrakte Figuren, die sich zum Himmel hinstreckten. Früchtetragende Bäume symbolisierten Fruchtbarkeit und Leben. Hatte eine Frau kürzlich den Verlust eines Kindes erlitten, dann zeigte ihr Gewebe finstere Sterne und Schnörkel, die den Geisterhimmel repräsentierten. Gabriel sah auf seine eigene Decke hinab und studierte die Zeichen zum ersten Mal. Sie ergaben ein kunstvolles Muster aus in konzentrischen Kreisen angeordneten Spiralen und Blüten, was er als den Wechsel der Jahreszeiten in der Wüste interpretierte.
Hinter ihm erklang eine Stimme. Gabriel drehte sich um und sah sich einem Jungen gegenüber, der kaum älter als sechzehn sein konnte. Er war von zierlicher Statur, nicht viel größer als einen Meter fünfzig. Seine Hände und Füße waren so klein wie die eines jungen Kindes. Dennoch schien er nicht davon eingeschüchtert, dass Gabriel ihn überragte. Mit geradem Rücken und gereckter Brust verschaffte er seiner Präsenz Geltung. Er spitzte seine fleischigen Lippen, als prüfe er den seltsamen Mann vor sich.
«Ich verstehe dich nicht, mein Freund», antwortete Gabriel.
Der lausbubenhafte Junge legte eine Hand auf seine Brust und wiederholte langsam: «Daaa’ud.»
«Da’ud. Es freut mich, dich kennenzulernen.»
Der Junge zeigte auf Gabriel. «Abyan.» Er sagte noch etwas anderes und begann davonzulaufen, drehte sich dann aber um und bedeutete ihm, zu folgen.
Der Sand unter Gabriels nackten Füßen fühlte sich wie Brotkrumen an. Er war ungewöhnlich grobkörnig in diesem Teil der Wüste, wo Basaltzungen aus dem Sand und dem Geröll ragten und dem Land ein prähistorisches Aussehen verliehen. Dies war nur eines der vielen Gesichter der Wüste.
Von Tag zu Tag und Woche zu Woche wechselte das Gelände von ausgedehnten Trockengebieten zu unregelmäßigen Steinfeldern zu Gestrüppebenen zu fruchtbaren Oasen. Jene Vielseitigkeit war es, die es dem Nomaden erlaubte, fortzubestehen, und sein Überleben hing davon ab, dass er die Besonderheiten eines jeden Geländes genauso gut kannte wie den Schritt seines eigenen Kamels. Für Gabriel aber war alles entmutigend fremd und unvorhersehbar.
Gabriel fragte sich, wohin der junge Mann ihn führte. Die Zelte der Beduinen waren mittlerweile weit außer Sicht und die beiden schlängelten sich durch ein Basaltlabyrinth. Diese Steine, von der grausamen Sonne der Jahrtausende zu einem kreidigen Grau ausgeblichen, hatten sicherlich alles gesehen: Vulkanausbrüche, Kontinentalverschiebungen, Eiszeiten, Meteoriteneinschläge. Jetzt waren sie Grabsteine auf einem sandigen Friedhof, die stummen Wächter eines weltumfassenden Geheimnisses, deren versteinerte Masse alle Weisheit der Zeitalter enthielt.
Da’ud sagte etwas zu ihm. Dann verschwand er hinter einem Monolithen und tauchte in einen Hohlraum an der Unterseite des gewaltigen Felsens ein.
Gabriel kroch hinter ihm hinein. Es war dunkel und kühl, eine willkommene Atempause von der mörderischen Hitze. Die Luft roch nach Asche. Mithilfe einiger Stöcke und trockenen Gestrüpps, welche jemand in der Höhle zurückgelassen hatte, machte sich Da’ud daran, ein Feuer zu entzünden. Ein Zufluchtsort.
Hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte Gabriel sich niemals vorstellen können, dass ein Ort, so feindselig und kahl wie die Wüste, so gut für seine Geschöpfe sorgen konnte. Für diejenigen, die ihre Launen und Allüren kannten und bereit waren, sich ihrem Rhythmus zu unterwerfen, anstatt ihre eigene Ordnung zu schaffen, waren Schutz, Nahrung und Wasser immer vorhanden.
Gabriel setzte sich auf den kalten Boden und zog seine Knie an die Brust. Obwohl seine Sichtlinie auf eine zaghaft vom kraftlosen Feuer beleuchtete Steinwand begrenzt war, wurden ihre Stimmen von unsichtbaren Kammern reflektiert und hallten wider. Schatten, welche die Beschaffenheit des Steins abwechselnd verbargen und enthüllten, tanzten um ihn herum wie die Silhouetten von Musen.
Der junge Beduine stopfte eine Tonpfeife mit Tabak. Mit einem freundlichen Lächeln, das seine schiefen Zähne zeigte, bot er sie seinem Begleiter an. Gabriel benutzte ein Streichholz, um die Pfeife anzuzünden, und zog daran. Als er inhalierte, musste er husten.
«Was ist das für ein Zeug? Das ist ja widerlich.»
Da’ud johlte vor Lachen.
Auch Gabriel lachte. Er nahm einen weiteren Zug und täuschte beim Ausatmen Genuss vor, um seinen neuen Freund nicht zu kränken. Die Substanz stieß ihn ab, aber der Vorgang des Rauchens war beruhigend.
Da’ud wickelte ein Stück Gaze um einen Stock und tauchte ihn ins Feuer, um eine Fackel daraus zu machen. Er bedeutete Gabriel, ihm zu folgen, als er auf Händen und Füßen wie ein Affe zum anderen Ende der Höhle krabbelte. Er hielt die Fackel nah an die Wand.
Bemerkenswerterweise war der Fels vom Boden bis zur Decke mit seltsamen Zeichnungen und etwas, das wie Schriftzeichen einer Sprache erschien, bedeckt. Alles war in den Stein geritzt.
«Du kannst schreiben? Du kennst ein Schriftbild?» Gabriel war verblüfft.
Da’ud zeigte auf die Strichmännchen neben dem Text, die in der Art eines Szenenbuchs angeordnet waren. Mit scharadeartigen Gesten ging er dazu über, ihre Bedeutung zu erklären. Er deutete auf die Gestalt eines Reiters, der einen Speer hob, und machte ein böses Gesicht.
Gabriel beobachtet ihn aufmerksam. Obwohl er nichts von dem verstand, was der Junge sagte, konnte er seine Wut spüren. Er interpretierte die Geste als die Beschreibung eines Feindes. Da’ud zeigte auf eine weitere Szene, die den Reiter und seine Männer dabei zeigte, wie sie Menschen und Zelte niedertrampelten. Seine Stimme wurde laut – beinahe verzweifelt –, während er seine Geschichte erzählte. Die nächste Darstellung beschrieb einen auf dem Boden liegenden Mann, über dessen Körper sich das Pferd aufbäumte, während ein kleiner Junge nahebei stand. Da’ud schlang seine Arme um sich selbst und wiegte sich vor und zurück. In seinen Augen glitzerten Tränen und seine Stimme war voller Angst.
Gabriel rang um Verständnis. War der totgetrampelte Mann ein Verwandter? Sein Vater vielleicht? War er der kleine Junge, vor dem sich die Szene abspielte?
Da’ud beruhigte sich und seine Augen füllten sich mit Hass. Er trommelte sich dreimal auf die Brust und hielt seine Fäuste in die Höhe. Dann zeigte er auf eine andere Darstellung, die zwei Männer in einem Handgemenge zeigte. Er biss die Zähne aufeinander und zog seine Hand über seine Kehle, eine Geste, die unmissverständlich war.
Die Darstellungen, zusammen mit Da’uds Gesten und wild dreinblickender Vortragsweise, erzählten eine Geschichte von Rache, vom Auslöschen eines Lebens, um ein anderes zu sühnen. Der Junge vor ihm mochte jung sein, aber nicht zu jung, um Blut im Namen der Gerechtigkeit zu vergießen. Gabriel fand keine Worte.
Da’ud fuhr fort, deutete auf eine weitere Reihe von Darstellungen. Seine Augen waren leer, während er den letzten Teil der Geschichte erzählte. Er zeigte auf ein scharfes