»Hallo, Wendy!«
Franziska Morris betrat die Praxis von Dr. Norden. Es sollte fröhlich klingen, aber Wendy blickte in ein blasses, erschöpftes Gesicht.
»Setzen Sie sich, Frau Morris«, sagte sie besorgt.
Man konnte sie nicht nur als Patientin betrachten, denn sie war schon ein halbes Leben mit Dr. Norden befreundet und auch von dessen Frau Fee akzeptiert worden, die sonst andere Frauen ziemlich skeptisch betrachtete, die sich als alte Freundinnen von Daniel bezeichneten. So einige wären das liebend gern gewesen und hätten Fee aus seinem Leben verdrängt.
Bei Franziska war das nicht so, denn sie selbst war eine sehr glücklich verheiratete Frau gewesen. Leider nur für zwanzig Jahre, denn vor zwei Jahren war Joe Morris plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Das wußte Wendy, die Franziska sehr mochte, natürlich auch.
Franziska gehörte nicht zu den Frauen, die dauernd irgendwelche Wehwehchen hatten. Sie kam nur in die Praxis, wenn ihr wirklich etwas fehlte, aber jetzt ahnte Wendy schon, daß es diesmal die Psyche war, die Franziska einen Streich spielte.
»Wo fehlt es denn, Frau Morris?« fragte Wendy dennoch.
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, erwiderte Franziska seufzend. »Ich bin dauernd müde, nervös und gereizt. Die Kinder meckern, daß mit mir nichts mehr anzufangen sei und ich habe das Gefühl, daß ich alles falsch mache.«
Wendy sah sie forschend an. »Das reden Sie sich nur ein«, meinte Wendy. »Sie richten Ihr Leben nach den Kindern, die aber inzwischen erwachsen sind. An sich selbst denken Sie nicht. Meinen Sie nicht, daß die drei zumindest manches selbst tun könnten?«
»Sie können sich noch immer nicht daran gewöhnen, daß sich nach dem Tod meines Mannes manches geändert hat. Ein Hausmädchen kann ich mir nicht mehr leisten, die Putzhilfe kommt einmal die Woche und ist auch teuer genug. Ich will Ihnen aber nicht die Ohren volljammern, Wendy.«
»Das tun Sie doch nicht. Ich habe Zeit, der letzte Patient ist drin, und bei dem dauert es immer ziemlich lange. Es hilft vielleicht, wenn Sie sich etwas von der Seele reden. Bei mir ist es gut aufgehoben.«
»Das weiß ich, Wendy, aber Sie müssen sich so viele Wehklagen anhören.«
»Manche Menschen jammern nur, ohne Grund dazu zu haben. Da geht es zu einem Ohr rein und zum andern raus, aber wir kennen uns schon gut genug, um zu verstehen, wenn den anderen wirklich etwas bedrückt. Sie haben auch mal sofort bemerkt, daß ich Kummer habe.«
»Als eine liebe alte Patientin gestorben war. Ich weiß«, nickte Franziska.
»Dann nehmen Sie mir auch nicht übel, wenn ich sage, daß Sie zuviel Rücksicht auf Ihre Kinder nehmen.«
»Sie haben ja recht. Ich weiß es, aber ich bringe es nicht über mich, mal ein Machtwort zu sprechen. Sie tanzen mir auf der Nase herum. Einmal sind sie so erwachsen, daß sie alles selbst bestimmen können, aber wenn es um häusliche Pflichten geht, halten sie sich nicht für zuständig. Wenn ich mich nur durchsetzen könnte!«
Gerade jetzt wurde das Gespräch unterbrochen, denn Dr. Norden verabschiedete seinen Patienten mit guten Wünschen für die Kur und wandte sich dann gleich Franziska zu.
Wendy wußte, daß Franziska bei ihm auch ein geneigtes Ohr finden würde, er wußte auch um ihre wirklichen Sorgen.
Sie waren gleichaltrig und ein paar Jahre in derselben Schulklasse auf dem Gymnasium gewesen. Damals hieß Franziska noch Berry und wurde als Tochter eines Oberstudienrates nur mit Vorsicht behandelt.
Nur Daniel Norden hatte diesbezüglich wirklich keine Berührungsängste, da sie zu den wenigen Mädchen gehörte, die ihm nicht auf Schritt und Tritt nachliefen. Außerdem war sie eine sehr gute Schülerin und wollte nicht dauernd etwas von ihm.
Wie es dann aber meist war, hatten sie nach der Schulzeit den Kontakt verloren. Franziska fing beim Rundfunk als Sprecherin an und lernte dort Joe Morris kennen, der ein höchst talentierter Nachwuchsregisseur war. Es war Liebe auf den ersten Blick und wurde für beide die große Liebe. Franziska war nicht nur eine sehr aparte junge Frau, sie war auch klug und vielseitig und machte schnell Karriere als Moderatorin beim Fernsehen.
Auch Joe machte sehr schnell Karriere. Er war acht Jahre älter als Franziska und drängte bald zur Heirat. Natürlich sagte sie nicht nein. Joe war froh, daß sich bald das erste Kind anmeldete, denn er war eifersüchtig, wenn andere Männer seine Franzi nur anschauten. Er war auch der Meinung, daß er genug Geld verdiene und sie nicht arbeiten müsse. Sie wollte immer Zeit für ihn haben, wenn er heimkam. Er war aber sehr gefragt und gar nicht so oft zu Hause, wie Franzi es sich wünschte. Als Jannick zur Welt kam, war sie voll beschäftigt, denn er war ein sehr lebhaftes Kind und behauptete sich vom ersten Tag an sehr energisch.
Das Glück des Ehepaares Morris war vollkommen, als zwei Jahre später Bibiane geboren wurde und ein Jahr danach Ruben. Joe war ein liebevoller Vater. Ihm machte es auch nichts aus, nachts aufzustehen, wenn ein Kind unruhig war, aber alles in allem hatten sie auch da Glück, denn die Kinder waren gesund und keine Plagegeister.
Dr. Norden wußte das alles. Als er mit Fee verheiratet war, trafen sie sich manchmal mit dem Ehepaar Morris und blieben seither immer in Kontakt, wenigstens telefonisch.
Daniel und Fee waren erschüttert gewesen, als Joe so plötzlich starb und voller Mitgefühl für Franziska, die nun allein mit drei fast erwachsenen Kindern fertig werden mußte, und eigentlich war es nur der damals fast sechzehnjährige Ruben, der sie noch um ihre Meinung fragte. Solange Joe lebte, war ihr gar nicht bewußt geworden, wie selbständig Jannick und Bibiane schon waren und wie selbstbewußt.
Daniel Norden ahnte, wo bei Franzi der Schuh drückte, als sie ihn mit ihren großen topasfarbenen Augen so flehend anblickte.
»Was ist los bei euch, Franzi?« fragte er auch ganz direkt.
»Sehe ich mies aus?« fragte sie.
»Unglücklich«, erwiderte er. »Du kannst mir alles sagen.«
»Den Kindern fällt es schwer, ihre Ansprüche herunterzuschrauben. Bibi hat zudem einen Freund, der mir gar nicht gefällt, und Ruben will vor dem Abi die Schule schmeißen. Und da ich Joe nicht mehr habe, komme ich zu dir, um Rat einzuholen.«
Ihre Stimme bebte, und ihre Augen wurden feucht. Daniel griff nach ihrer Hand.
»Das ist richtig so, Franzi. Wir haben dir gesagt, daß wir immer Zeit für dich haben. Ich finde, daß es an der Zeit ist, daß die Kinder den Ernst der Situation begreifen, aber du selbst mußt es ihnen sagen. Wenn ich es tue, werfen sie dir schließlich vor, daß es eine Familienangelegenheit ist, in die sich niemand einzumischen habe.«
»Wie soll ich es anfangen?«
»Eine Rechnung aufmachen, ihnen erklären, wieviel Kosten du hast. Du mußt ihnen zeigen, daß sie nicht mit dir machen können, was sie wollen.«
»Ich wäre gern wieder in meinen Beruf zurück, aber dazu bin ich zu alt und nicht mehr attraktiv genug. Da sind junge, knackige Blondinen gefragt. Ich verstehe es ja auch, daß Männer lieber solche sehen. Aber ich kann sonst nichts anderes.«
»Sag das nicht. Du bist eine kluge, belesene Frau! Ich würde es auch für das Beste halten, wenn du dich irgendwie betätigst, dann hast du eben keine Zeit, dich um alles zu kümmern und die verwöhnten Kinder müssen selbst was tun. Du bist keine Glucke und immer noch eine attraktive Frau, wenn du dich mal wieder lächelnd zeigst. Dein Lächeln war immer umwerfend, und deine Zähne können mit jeder jungen Blondine konkurrieren. Überhaupt kommt es auf die Ausstrahlung an.«
»Die ich nicht mehr habe.«
»Die du nur eingefroren hast, meine liebe Franzi. Ich weiß, wie sehr du Joe vermißt, aber das solltest du den Kindern auch mal sagen und nicht ewig die Tapfere spielen. Ich will, daß du dich auf dich selbst besinnst, und du mußt das auch wollen. Deine Sorgen sind die Sorgen vieler Eltern. Heranwachsende Teenager fühlen sich kollossal stark und wissen alles besser. Das höre ich jeden Tag.«
»Aber eure Kinder sind nicht so.«
»Danny und Felix versuchen