„Aber ich mag meinen Rucksack nun mal und trage ihn gern mit mir. Ich verstehe nicht, was du eigentlich gegen meinen Rucksack hast!“
„Nichts. Ich habe nichts gegen deinen Rucksack. Es geht nur um seinen Inhalt. Den trägst du wie eine Kette um den Hals und wie eine Fessel um deinen Fuß, und du trägst ihn schon so lange, dass du glaubst, er sei ein Teil von dir. Es ist nicht dein Rucksack, es sind deine Spielzeuge, die dich traurig machen und zur Verzweiflung bringen.“
„Schon gut. Es reicht. Ich habe dich verstanden. Aber du hast mir immer noch keinen Rat gegeben und ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll!“
„Ich kann dir keinen Rat geben, was du tun sollst, doch du selbst hast ja schon vieles getan und wirst auch noch vieles tun. Schau, du hast dein vertrautes Zuhause verlassen und dich auf die Suche begeben, du bist neugierig und du stellst Fragen. Das ist schon sehr viel und ein wunderbarer Anfang.“
„Und wie lange dauert dieser Anfang noch?“
„Ist das wirklich so wichtig, wie lange es dauert, wenn es um eine lohnenswerte Sache geht? Wenn du zum Beispiel ein Gemälde siehst, das dir gut gefällt, fragst du ja auch nicht, wie lange der Künstler dafür gebraucht hat. Du fragst höchstens, wer das gemalt hat. Zeit ist der geringste Preis, den man für ein klares Ziel zahlt. Worauf es wirklich ankommt, ist, was du wirklich willst. Wenn du ein Ziel im Herzen trägst und entschlossen bist, es auch zu erreichen, dann hast du auch die Ausdauer für den Weg, die Kraft für die Mühe und die Geduld für den Schmerz.“
Verliebtheit guckte kritisch und dachte:
‚Wieder so eine Antwort, die sich verdammt gut anhört, aber nichts nützt‘, und murmelte vor sich hin:
„Erst einmal ein klares Ziel haben“, und drückte ihren Missmut durch die Frage aus:
„Und jetzt?“
„Jetzt würde ich vorschlagen, dass wir deinen Rucksack samt all deinen Spielzeugen erst einmal in Ruhe lassen und eine Weile nicht mehr über sie reden. Lass uns etwas spazieren gehen und schauen, was so alles unterwegs passiert und was uns alles …“
„Ja, das machen wir. Vorher möchte ich jedoch noch etwas klären. Wenn ich später jemandem von unserer Begegnung erzählen möchte, wie soll ich dich dann beschreiben? Soll ich sagen, ich habe einen alten Mann getroffen, oder soll ich sagen, ich bin der Liebe begegnet?“
Nach einem tiefen Atemzug antwortete Liebe:
„Du wirst mich sowieso nur so beschreiben, wie du mich erlebt hast. Wenn du nur einen alten Mann mit all seinen Gebrechen kennengelernt hast, dann wirst du auch nur etwas über ihn zu sagen haben. Hast du dich aber von mir als Liebe berühren lassen, hast du etwas von Liebe in dir aufgenommen, dann wird auch Liebe aus dir sprechen. Unabhängig davon, wie du mich wahrnimmst und mich später beschreiben wirst, bin ich beides: einmal ein zu Fleisch gewordener Mensch, eben ein alter Mann, der alle Facetten des menschlichen Daseins erlebt hat, der auch mal jung und verliebt war; gleichzeitig aber bin ich auch Liebe. Liebe, die ich schon seit eh und je war und bin und sein werde. Wie auch immer, ich weiß nicht, was du über mich erzählen wirst, doch aus einem Krug kommt das heraus, was in dem Krug ist.“
Daraufhin verschloss Verliebtheit ihren Rucksack, stand auf, warf Liebe einen fragenden Blick zu und begab sich auf den Weg.
Liebe vergewisserte sich schnell, dass Verliebtheit nichts liegen lassen hatte, und folgte ihr dann.
Sklaventreiber
Die Sonne stand gerade über dem Horizont, der Himmel war blau und die Luft warm und leicht. Die Landschaft war eingebettet in ein Grün mit hunderten Nuancen und geschmückt mit tausenden wilden Wiesenblumen.
Diese verschwenderische Schönheit auf beiden Seiten des Weges ging an Verliebtheit vorbei; sie war viel zu tief in Gedanken versunken. Sie hatte weder die Enttäuschung überwunden, keinen Rat von Liebe bekommen zu haben, noch war sie wirklich damit einverstanden, eine Weile nicht über ihre Spielzeuge zu reden. Hinzu kam, dass sie das Gefühl hatte, ihr Rucksack sei an diesem Morgen, eigentlich seit der Begegnung mit Liebe, schwerer geworden. Schwerer als je zuvor. Deshalb wuchs ihr Wunsch, mit Liebe über ihre Spielzeuge zu reden, mit jedem Schritt. Gleichzeitig aber wollte sie auch den Vorschlag von Liebe, eine Weile nicht über ihren Rucksack zu sprechen, beherzigen. Zu diesem Dilemma kam noch ihre bohrende Ungeduld hinzu, die bewirkte, dass sie ihr eigenes Schweigen nicht mehr aushielt. Sie blieb stehen, drehte sich um, schüttelte den Kopf und sagte zu Liebe, die ein paar Schritte hinter ihr lief:
„Du läufst aber ganz schön langsam. Ja, ja, das sind wohl die alten Knochen, die nicht mitmachen“, und fügte etwas hämisch hinzu:
„Aber ich warte ja gern auf dich.“
Sie wartete, bis Liebe neben ihr stand, und fuhr fort:
„Wie du siehst, habe ich deine Vorschläge beherzigt: Ich gehe weiter mit dir und rede auch nicht über meine Spielzeuge.“
So gingen Liebe und Verliebtheit eine ganze Weile schweigend nebeneinander den Weg entlang. Als sich ein Vogel ein paar Meter von ihnen entfernt auf einen kleinen Felsen am Rande des Weges setzte, nutzte Verliebtheit diese Gelegenheit, das ihr unerträglich lang vorkommende Schweigen zu brechen. Sie zeigte auf den Vogel mit der Bemerkung:
„Schau, dieser Vogel fliegt nicht weg. Er scheint keine Angst vor uns zu haben, oder?“
„Ja, weil er weiß, dass seine Flügel schneller sind als unsere Schritte.“
„Und woher willst du wissen, dass er das weiß?“
„Weil alle Lebewesen ein angeborenes Wissen in sich tragen, das ihr Leben schützt. Deshalb nennt man dieses angeborene Wissen auch Selbsterhaltungstrieb. Natürlich ist das Wissen dieses Vogels ganz anders als das Wissen eines Menschen, was das Überleben betrifft, doch das Resultat ist dasselbe.“
„Wenn das so einfach ist, wo bleibt dann mein Überlebenstrieb, der mich vor meinen Ängsten, Sorgen und Problemen beschützt und mich befreit?“
„Gerade deine Ängste, Sorgen und Probleme sind die Folge deines Überlebenstriebes. Weißt du, Menschen können denken. Deshalb machen sie aus ihrem Überlebenstrieb, der natürlich und notwendig ist, eine Überlebensstrategie, einen Überlebensplan. Da menschliche Strategien und Pläne nicht nur Sinnvolles und Notwendiges enthalten, sondern auch Schädliches und Irreales …“
„Wenn ich dich richtig verstehe, heißt das ja nichts anderes, als dass ich bloß deshalb Ängste, Sorgen und Probleme habe, weil ich überleben will.“
„Nein, nicht weil du überleben willst, sondern die Art und Weise, wie du zu überleben versuchst, bereitet dir Angst und Sorgen. Zu deiner Beruhigung, diese irrige und angstvolle Art zu überleben ist nicht dein persönliches Schicksal, es ist das Dilemma des menschlichen Daseins schlechthin. Ein Dasein mit dem Rucksack, ein Dasein für den Rucksack. Durch diese Art zu überleben machen sich die Menschen zu ihrem eigenen Sklaventreiber. Sie schweben nicht mehr mit Leichtigkeit durch das Leben, sondern sie tragen das Leben wie eine schwere Last auf ihren Schultern. Wie ein gehorsamer Sklave. Wie man aber durch diese oder jene Art zu leben zu seinem eigenen Sklaventreiber wird, darauf werden wir bestimmt noch zurückkommen.“
„Na, ein Grund mehr, Liebe zu sein, dann entfliehe ich dem Dilemma.“
„Entfliehen