Der Moment, der alles änderte. Julia Thurm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Thurm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960741916
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sie den Motor anließ.

      „Das siehst du gleich“, erwiderte sie geheimnisvoll.

      Wir waren ungefähr 40 Minuten unterwegs, bis wir unser Ziel erreichten. Als ich aus dem Wagen stieg, fiel mir sofort das riesige zweistöckige Schulgebäude aus Ziegelsteinen ins Auge. Das Erste, was ich bemerkte, war die lange Rampe für Rollstuhlfahrer, die direkt neben einer Treppe nach oben zum Eingang führte. Eine Flagge der USA hing über dem schwarz-weißen Portal und den goldenen Ziffern, die die Hausnummer anzeigten: 350.

      Nachdem man das Gebäude betreten hatte, führte der Weg zu einem mit Metalldetektoren ausgestatteten Durchlass, den man passieren musste, um die Schule zu betreten, ähnlich der Sicherheitskontrolle am Flughafen. Doch an diesem Tag kamen wir auch ohne Überprüfung hinein. Da ich mir unsicher war, lief ich einfach Christin hinterher. „Wow!“ Das war alles, was ich hervorbrachte, als ich die Schule von innen sah, denn sie sah aus wie ein altes Schloss. Jedes Mal, wenn man einen neuen Gang betrat, wurde man von einem Rundbogen aus Ziegelsteinen empfangen. An den Wänden hingen Auszeichnungen von Schülern, die an den verschiedensten Wettbewerben teilgenommen hatten. Der Boden war aus feinstem Parkett, die Schulspinde waren hellblau und die Nummern darauf aus Gold. Auch wenn das Gebäude komplett aus Ziegelsteinen errichtet worden war, waren die Räume hell und lichtdurchflutet.

      Doch es blieb eine entscheidende Frage offen: Wo waren die Schüler? Es war mitten in der Woche, doch kein einziger war uns bisher über den Weg gelaufen. Als ich diese Beobachtung soeben meiner Schwester mitteilen wollte, kam eine Frau auf uns zu. Sie war mit Stöckelschuhen etwa 1,60 Meter groß und bekleidet mit einem langen dunkelblauen Rock, außerdem einer hellblauen Bluse und einem dunkelblauen Jackett. Sie hatte rote kurze, auftoupierte Haare und trug passend dazu einen knallroten Lippenstift. Ich schätzte sie auf Mitte fünfzig. „Ms Smith?“, fragte sie meine Schwester.

      „Ja, genau“, entgegnete ihr Christin.

      „Ich erwarte Sie bereits. Wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Wir schlossen uns der Frau an.

      Zuerst dachte ich, sie wäre die Sekretärin, aber es stellte sich heraus, dass es sich bei der kleinen rothaarigen Dame um die Rektorin handelte. Ihr Büro war genauso wie der Rest der Schule eingerichtet. Auf dem Weg dorthin zeigte sie uns ein paar Klassenräume. Die Zimmer besaßen alle sehr hohe Decken, fast so hoch wie in einer kleinen Kapelle. Auch darin war der Boden mit feinstem Parkett ausgelegt. Die Tische und Stühle, an denen die Schüler saßen, waren am Boden festgeschraubt worden. So verhinderte man wohl Diebstähle. Auf jedem Tisch stand ein Laptop, der ebenfalls fest am ... nein, im Tisch installiert war. Geld spielte hier wohl keine Rolle.

      „Bitte setzen Sie sich doch“, forderte uns die Rektorin sehr höflich auf, als wir ihr Büro erreicht hatten. Auf dem Schreibtisch stand ein goldenes Schild mit ihrem Namen: Ms Simpson.

      Dies rief in mir die Assoziation mit der Farbe Gelb hervor, aber ich wusste nicht genau, warum. Außerdem hatte ich mich schon gewundert, wieso sie sich nicht vorgestellt hatte. Aber durch das Schild hatte sich das erledigt.

      Als wir uns setzten, sagte sie zu mir: „So, du bist also Katie.“

      Christin warf mir einen Blick zu, als ob sie sagen wollte: „Sei bloß höflich!“

      Also antwortete ich lediglich: „Ja, Miss.“ Auf diese Antwort hin schenkte mir meine Schwester ein kleines, kaum wahrnehmbares Nicken. Ich wollte es diesmal wirklich nicht vermasseln.

      „Ich bin Ms Simpson“, nahm die Rektorin den Faden wieder auf.

      „Ach wirklich? Wusste ich ja noch gar nicht“, dachte ich genervt, schwieg aber wohlweislich. Dieses Zeugnis guter Manieren kam zwar spät, aber immerhin hatte sie sich doch noch vorgestellt. Aber vielleicht dachte sie auch bloß, ich sei Analphabetin und könnte das Schild nicht lesen. Ich war zwar nicht sehr lernwillig, aber immerhin hatte ich lesen und schreiben gelernt.

      Sie fuhr fort: „Schön, dass du Zeit gefunden hast herzukommen. Ich hoffe, dass es dir bei uns gefällt. Trotzdem bist du hier nicht zum Spaß, sondern aus dem gleichen Grund wie alle anderen, deswegen bekommst du keine Sonderbehandlung. Es gibt einige Regeln, die du einhalten musst, wenn du keine Probleme möchtest. Fangen wir mit dem Äußerlichen an: Du wirst eine Schuluniform tragen, keinen Schmuck, kein Make-up oder sonstige Schminke und es werden die Schuhe angezogen, die du von uns bekommst. Ach ja, die Haare werden immer zusammengebunden.“

      Meine Augen wurden größer und meine Ohren konnten nicht glauben, was sie da hörten. „Was?!“, rief ich entsetzt. „Schicken Sie mich doch gleich in den Knast.“

      „Katie!“, ging Christin wütend dazwischen. „Du wirst tun, was man dir sagt.“ Ich schwieg beleidigt. „Entschuldigen Sie bitte das Fehlverhalten meiner Schwester“, wandte Christin sich an Ms Simpson.

      Diese entgegnete nur: „Kein Problem. Eine solche Reaktion habe ich schon öfter erlebt. Aber das sind noch längst nicht alle Regeln, Katie.“ In diesem Moment dachte ich, die Frau wolle mich einfach nur provozieren. „Kaugummikauen ist im gesamten Gebäude strengstens verboten, getrunken und gegessen wird nur in der Kantine. Das Konsumieren von Alkohol und Zigaretten ist natürlich ebenfalls untersagt. Der Unterricht beginnt um acht Uhr, du kannst den Schulbus um halb acht nehmen. Deine Uniform liegt schon bereit und deinen Stundenplan bekommst du morgen früh. Ich hoffe, die Regeln sind dir nun klar und du wirst dich daran halten.“

      „Ja, sicher“, erwiderte ich derart ironisch, als ob ich bereits wüsste, dass Ms Simpson und ich keine Freunde werden würden.

      „Gut“, gab die Rektorin etwas hämisch zurück. Anschließend verwickelte sie Christin in einen kleinen Small Talk.

      Währenddessen fiel mir ein, was ich schon am Anfang hatte fragen wollen. Doch ich hielt lieber still, bis die beiden ihr Gespräch beendeten. Ich hatte keine Lust, noch mehr Verhaltensregeln eingebläut zu bekommen. Ich und Regeln, das war ohnehin so eine Sache.

      Schließlich konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und fragte neugierig: „Wo sind eigentlich die Schüler und Lehrer?“ Lehrer hatte ich nämlich auch keinen einzigen gesehen. Könnte eigentlich so bleiben ...

      Christin und Ms Simpson starrten mich an, als ob beide sagen wollten: „Dazwischenreden ist sehr unhöflich.“

      Doch die Rektorin verzichtete auf die Rüge und erklärte: „Die gesamte Schule macht einmal im Jahr einen Ausflug. Wir nutzen diese Gelegenheit meistens, um neue Schüler willkommen zu heißen oder das gesamte Gebäude reinigen zu lassen.“

      Und wieder war „Wow!“ das einzige Wort, mit dem ich diese Schule und ihre Rektorin beschreiben konnte.

      Als ich schließlich meine Schuluniform bekam, traf mich fast der Schlag. Sie sah noch schlimmer aus, als ich sie mir vorgestellt hatte. War das ein seltsamer Tag. Zuerst hatte ich gesehen, wie mein Freund mit Amy rummachte. Dann wurde ich in eine Schule gesteckt, die eher an ein Gefängnis erinnerte, und zu guter Letzt sollte ich eine Schuluniform tragen, die nicht noch gruseliger aussehen könnte.

      Meine Schwester und ich verabschiedeten uns höflich von Ms Simpson und verließen das Gebäude, das von außen wesentlich kleiner wirkte, nachdem man sein Inneres gesehen hatte.

      Wir stiegen in den Wagen und fuhren nach Hause.

      *

      6

      Es war 6.30 Uhr am nächsten Morgen, als ich aufstand, mich in die Dusche bewegte und danach mit Spike Gassi ging. Als ich nach Hause kam, setzte ich mich an den Frühstückstisch und diskutierte mit meiner Schwester, wie viele Gründe es gab, um diese Schuluniform nicht tragen zu müssen. Es lief zunächst ziemlich gut für mich. Aber letztendlich saß ich eben doch am kürzeren Hebel.

      Und somit fand ich mich mit zusammengebundenen Haaren, ohne Make-up und schwarzen Nagellack, in einer weißen Bluse mit rot karierter Krawatte, einem roten Karorock, der bis zum Knie ging, weißen Kniestrümpfen und schwarzen Lackballerinas vor dem Spiegel wieder. Für einen Emo wie mich war das die reinste Hölle. Die Uniform