Tote Augen – stumme Schreie. Karin Varch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Varch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783968583204
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nicht merken, weil Sie nicht wissen, auf welche Signale Sie achten müssen. Abgesehen davon, dass das Kind vom Täter zum Schweigen gezwungen wird. Es darf nichts sagen, es versucht zu zeigen, in welcher Notlage es sich befindet. Es liegt an uns, diese Signale zu verstehen.

      Wir können unsere Kinder nur verstehen lernen, indem wir das Thema sexueller Missbrauch enttabuisieren und uns damit auseinandersetzen. Vor der Tatsache, dass es sehr viele Kinder gibt, denen unsagbares Leid zugefügt wird, dürfen wir nicht die Augen verschließen. Sie brauchen unsere Hilfe und ihre Hilferufe dürfen nicht ungehört bleiben.

      Am Anfang ist das Vertrauen

      Mit der Geburt wird dem Kind das Urvertrauen mitgegeben. Neugeborene sind von uns Erwachsenen abhängig. Sie wissen es instinktiv; es wurde ihnen mit den Genen mitgegeben. Ohne dieses Urvertrauen könnten Neugeborene nicht existieren. Sie vertrauen instinktiv darauf, dass sie von der Mutter die notwendige Nahrung erhalten. Sie vertrauen darauf, dass sie von ihrem Umfeld mit Liebe umgeben werden. Sie vertrauen darauf, dass alles für ihr Wohlbefinden getan wird. Dies fordern sie mit Nachdruck auf ihre ihnen eigene, durchdringende und unmissverständliche Art – sie schreien.

      Wenn sie den Windeln entwachsen sind und ihre Kreise größer werden, vertrauen sie immer noch auf uns Erwachsene, dass wir sie beschützen und für ihr Wohlergehen sorgen. Sie sind sich sicher, dass ihnen nichts passieren kann, egal was kommt.

      Wer kennt nicht jene Situationen mitten in der Nacht: Draußen tobt ein Sturm, Blitze machen das Zimmer taghell und der Donner lässt die Scheiben zittern. Die Kinder schrecken aus dem Schlaf hoch, stürmen in das elterliche Bett und kuscheln sich vertrauensvoll an Mama oder Papa. Schon befinden sie sich wieder in Orpheus Armen, träumen zufrieden und beschützt von ihren kleinen Abenteuern.

      Eine andere Situation: Im Kindergarten oder in der Schule gab es Ärger, weil das Kind sich nicht an die Spielregeln halten wollte – oder konnte. Die Eltern werden zu einem Gespräch gebeten. Einerseits hat das Kind Angst vor den Folgen seines Fehlverhaltens, denn dieses ist ihm bewusst. Andererseits hat es so viel Vertrauen in seine Eltern, dass es instinktiv weiß: Mama und Papa machen das schon. Ich kann mich auf sie verlassen. Kein Kind könnte begründen, warum das so ist. Angeborenes Urvertrauen.

      Noch ein Beispiel: Das Kind geht brav an der Hand der Mutter auf dem Gehsteig. Es weiß, dass es nicht auf die Straße laufen darf. Das ist gefährlich, dies hat es bereits gelernt. Doch plötzlich sieht es etwas Faszinierendes auf der anderen Straßenseite. Mit einem Mal ist alles vergessen. Das Kind reißt sich von der Hand der Mutter, rennt über die Straße, ohne auf Verkehr oder Zurufe der Mutter zu achten. Durch das Vertrauen auf den Schutz der Eltern fühlt sich das Kind in diesem Moment sicher und vergisst alle Regeln und Ermahnungen. Der Reiz des Verbotenen spielt in dieser Situation eine große Rolle!

      Dieses Urvertrauen bleibt Kindern so lange erhalten, bis sie aufgrund ihrer Entwicklung sowie gemachten Erfahrungen kritischer werden und beginnen, Dinge zu hinterfragen. Im Idealfall bleibt dieses Urvertrauen über die ersten Schuljahre hinweg konstant. Danach verwandelt es sich allmählich zum gesunden Vertrauen in sich und ins Umfeld. Es gibt ihnen Sicherheit und Halt, vermittelt Geborgenheit.

      Kinder vertrauen darauf, dass sie zu Hause sicher sind. Sie vertrauen darauf, dass ihre Eltern sie beschützen und hinter ihnen stehen. Sie vertrauen darauf, dass ihre Eltern dafür sorgen, dass sie ausreichend Nahrung und warme Kleidung haben. Sie vertrauen darauf, dass die Eltern dafür sorgen, dass ihnen nicht langweilig wird. Sie vertrauen darauf, dass die Lehrer sie wichtige Dinge lehren. Sie vertrauen darauf, dass die Grundregeln, die sie vom Kleinkindalter an lernten, das Maß aller Dinge sind.

      Wird ein Kind sexuell missbraucht, zerstört diese Tat das Urvertrauen mit einem Schlag. Aber nicht nur das. Jedes Vertrauen wird zerstört. Kinder, die derart traumatisiert sind, empfinden kein Vertrauen mehr zur Familie, zu Freunden, am allerwenigsten zu sich. Eine schlimme Erfahrung, mit der Kinder nicht zurechtkommen können. Durch eine einzige sexuelle Handlung wird die bisher heile Welt des Kindes komplett aus den Angeln gehoben. Von einer Sekunde zur anderen ist nichts mehr, wie es war.

      Zusätzlich ist mit der Zerstörung dieses Vertrauens die Kindheit schlagartig vorbei – das Kind wird gezwungen, erwachsen zu sein. Die verloren gegangene Kindheit kann nicht nachgeholt werden. Das Kind muss rasch lernen zu kompensieren. Blitzartig muss es erkennen, dass alles, was bisher seine Sicherheit, sein Vertrauen, seinen Halt und seinen Lebensinhalt ausgemacht hat, nichts mehr wert ist. Mit einem Schlag ist niemand mehr da, dem es vertrauen kann. Nicht einmal mehr auf die Eltern kann es sich verlassen. Es ist auf sich allein gestellt und erfährt auf erschreckende Weise, wie weh das „Auf-sich-alleine-gestellt-sein“ tut. Die Verlassensängste sind mit nichts zu beschreiben. Dennoch muss es weiterleben wie bisher. Es kann seine Situation aus eigener Kraft nicht ändern.

      Sicherheit?

      Vertrauen?

      Zerstört!

      Gnadenlos!

      Rücksichtslos!

      Brutal aus der Kindheit gerissen!

      Ins Leid gestoßen!

      Das Leben reduziert auf 1 m² Sicherheit!

      Auf 1 m² Vertrauen!

      Nur 1 m²!

      Die Sicherheit genommen.

      Das Vertrauen zerstört.

      Das Leben erstickt.

      Zum Zuschauen verdammt.

      Zuschauen, wie das Leben an mir vorbeirauscht.

      1 m² Sicherheit.

      Sie hält mich aufrecht!

      Sie lässt mich nicht zusammenbrechen.

      Sie nimmt mir den Mut, mich fallen zu lassen!

      Sie lässt mich nicht teilhaben am Leben.

      Da draußen!

      Außerhalb dieser Sicherheit!

      Es rauscht an mir vorbei!

      Das Leben.

      Es findet statt!

      Das Leben.

      Aber ohne mich!

      Was ist das für eine Sicherheit, die mir die Kraft nimmt, am Leben teilzuhaben?

      Die mir den Blick raubt für alles Schöne.

      Die meine Gefühle erstickt.

      Die mein Leben reduziert.

      Auf 1 m².

      1 m² Lebensraum!

      Ausbrechen?

      Nimmt mir die Sicherheit!

      Davonlaufen?

      Nimmt mir die Sicherheit!

      Leben wollen!

      Geht das ohne Sicherheit?

      Einen Ausweg suchen!

      Wo ist er?

      Arme, die mich halten!

      Wärme spüren!

      Loslassen!

      Zu leben beginnen!

      Ein Kind lebt im Hier und Jetzt

      Eine ebenfalls nur dem Kind vorbehaltene Eigenschaft ist das Leben im Hier und Jetzt. Das Kind erlebt jeden Augenblick bewusst, kann diesen aber Sekunden später wieder vollkommen vergessen. Es ist in der Lage, Stimmungen in Windeseile zu ändern. Diese Fähigkeit zerrt bisweilen vehement an den Nerven der Erwachsenen. Eine Fähigkeit, um die wir unser Kind beneiden.

      Hierzu ein Beispiel, das jeder kennt: Ihr Kind spielt brav in der Ecke des Wohnzimmers mit Bausteinen. Mit der Zeit wird ihm langweilig. Während Sie das Mittagessen zubereiten, hängt es an Ihrem Rockzipfel und quengelt. Einerseits verständlich, andererseits müssen Sie das Mittagessen vorbereiten. Folglich schimpfen Sie mit dem Kind. Die Situation eskaliert, möglicherweise so weit, bis Sie und Ihr Kind vor Wut toben. Nachvollziehbar. Nun packt Sie als liebevoller Elternteil