Regungslos lag ich da in wonniger, qualvoll gespannter Erwartung. Durch die Augenlider blinzelnd, nahm ich wahr, was geschah. Die Hübsche trat näher und beugte sich über mich; schon spürte ich ihren Atem. Er war süß, honigsüß und jagte mir die gleichen Schauer durch die Nerven wie ihre Stimme; doch in der Süße steckte etwas Bitteres, eine widerwärtige Bitterkeit: So riecht und so schmeckt – Blut.
Ich wagte nicht, die Augen ganz aufzuschlagen; so öffnete ich nur einen schmalen Schlitz, konnte aber durch die Wimpern spähend alles deutlich erkennen. Das Mädchen kniete nieder, beugte sich erneut über mich und verharrte eine Weile in verzückter Betrachtung. Da war eine Lüsternheit, die bewusst langsam und bedacht vorging; eben dadurch wirkte sie erregend und abstoßend gleichermaßen. Als sie den Nacken bog, leckte sie sich die Lippen – man kann es nicht anders sagen – wie ein Tier; im Licht des Mondes sah ich die Feuchtigkeit auf ihren scharlachroten Lippen und ihrer roten Zunge glänzen, mit der sie sich ständig über ihre spitzen weißen Zähne fuhr. Tiefer und tiefer neigte sich ihr Kopf; ihre Lippen schwebten dicht an meinem Mund und meinem Kinn vorbei und verharrten über meiner Kehle, wo ihr Ziel zu sein schien. Doch wieder hielt sie einen Augenblick inne und leckte sich Zähne und Lippen – der Laut ging mir durch und durch. Ich spürte ihren heißen Atem auf meinem Hals. Die Haut an meiner Kehle begann zu prickeln, wie es geschieht, wenn eine Hand, die uns kitzeln will, sachte heranrückt, näher und noch näher. Endlich fühlte ich auf meiner hochempfindlichen Haut an meiner Kehle die sanfte Berührung ihrer Lippen, die mich erschauern ließ, dann aber gleich auch den harten Stich zweier scharfer Zähne, die freilich noch nicht zustießen, sondern die Fläche unter sich nur eindellten und in dieser Position verharrten. Ich schloss die Augen in schwülem Sinnestaumel und wartete, wartete klopfenden Herzens.
Im selben Moment jedoch durchfuhr mich eine andere Wahrnehmung wie ein Blitz. Und ich wusste: der Graf war zurück. Ein Sturm des Zornes schien mit ihm ins Zimmer zu fegen. Ich öffnete unwillkürlich meine Augen, und da sah ich ihn. Seine starke Hand packte den schmalen Hals der Schönen im Nacken und riss sie mit Riesenkraft zurück. Auch sie geriet außer sich. Wut entstellte ihre Augen, Tobsucht ließ ihre Zähne knirschen und leidenschaftliche Empörung ihre Wangen erglühen. Und erst der Graf! Nie hätte meine Phantasie gereicht, mir solchen Grimm, solche Raserei auszumalen, nicht einmal bei den Dämonen der Unterwelt. Seine Augen sandten förmlich Flammen. Sie leuchteten in grellem Rot, als loderte hinter ihnen das Feuer der Hölle. Die Züge des totenbleichen Gesichts waren starr und hart wie Walzdrähte; die dicken Brauen, welche über der Nase zusammenstießen, waren jetzt wie Blöcke weißglühenden Metalls. Mit einem ungestümen Schwung seines Armes schleuderte er die Frau von sich und bewegte sich dann auf die anderen zu, als wollte er sie durch Schläge zurücktreiben. Es war die gleiche herrische Geste, die gegenüber den Wölfen Anwendung gefunden hatte. Mit einer Stimme, die, obwohl sie leise sprach, ja fast flüsterte, durch die Luft zu schneiden und an den Wänden widerzuhallen schien, wies der Graf die Damen zurecht: »Wie könnt ihr es wagen, ihn anzurühren? Wie könnt ihr es wagen, auch nur die Augen auf ihn zu richten, wo ich es euch doch ausdrücklich verboten habe, euch allen dreien? Zurück, sage ich euch! Dieser Mann gehört mir! Seht ja zu, dass ich euch nicht wieder bei ihm antreffe, oder ihr bekommt es mit mir zu tun.«
Das schöne Mädchen drehte sich um und erwiderte: »Du hast eben nie geliebt, und du wirst auch nie lieben!« Dabei lachte sie kokett und frivol, und die beiden anderen fielen ein. Das Gelächter, das nun den Raum erfüllte, klang aber so freudenleer, hart und seelenlos, dass mir fast die Sinne schwanden. So musste es sich anhören, wenn Teufel scherzten. Der Graf betrachtete eine Weile aufmerksam mein Gesicht. Dann wandte er sich wieder den Frauen zu und flüsterte sacht:
»O doch, ich kann lieben; ihr wisst es doch selbst noch von früher, oder etwa nicht? Wohlan, ich verspreche euch: wenn ich mit ihm fertig bin, dürft ihr ihn küssen, wie es euch behagt. Jetzt aber geht! Geht! Ich muss ihn wecken; es gibt noch eine Menge zu erledigen.«
»Und wir bekommen heute gar nichts? Oder ist das da für uns?«, fragte eine der drei und deutete zu einem Sack hin, den er auf den Boden geworfen hatte und der sich bewegte, als steckte etwas Lebendiges darinnen. Der Graf nickte. Eine der Frauen stürzte vor und öffnete den Sack. Wenn mich meine Ohren nicht täuschten, vernahm ich ein leises Stöhnen und Wimmern, wie von einem halb verröchelten Kind. Die Frauen drängten sich um die Gabe, während ich vor Schrecken erstarrte. Als ich endlich doch genauer hinsah, verschwanden sie und mit ihnen das fürchterliche Bündel. Wohlverstanden, sie verließen den Raum nicht auf gewöhnliche Weise. Nahe bei ihnen befand sich keine Tür, nur in einer weiter entfernten Wand, und um zu der zu gelangen, hätten sie an mir vorbeigemusst, und das wäre mir nicht entgangen. Sie schienen einfach in den Strahlen des Mondes zu zerfließen und durch das Fenster zu entweichen, denn ich erkannte für einen Moment noch draußen die verschwommenen, schattenhaften Umrisse ihrer Gestalten, ehe sie sich ganz auflösten. Dann überwältigte mich das Grauen, und ich sank bewusstlos zu Boden.
Viertes Kapitel
Jonathan Harkers Tagebuch
(Fortsetzung)
Ich erwachte in meinem eigenen Bett. War das alles nun ein Traum oder nicht? Wenn ja, musste mich der Graf hierhergetragen haben. Ich versuchte, die Frage zu klären, kam aber zu keinem befriedigenden Resultat. Zwar fand ich ein paar kleinere Indizien, die für ein reales Geschehen sprachen. So waren meine Kleider in einer Art gefaltet und zurechtgelegt, wie ich es nie getan hätte. Meine Uhr war nicht aufgezogen, und ich ziehe sie immer auf, bevor ich zu Bett gehe. Und es gab noch mehr Details, die in die gleiche Richtung deuteten. Doch sie alle waren kein Beweis; sie ließen sich ebenso gut dahingehend erklären, dass mein Geist eben nicht in der gewohnten Verfassung war, weil ihn irgendetwas gewaltig verwirrt hatte. Ein echter Beweis steht also noch aus. Über eines immerhin bin ich froh. Wenn mich wirklich der Graf hierhergetragen hat, muss ihn dabei große Eile getrieben haben: meine Taschen sind nämlich unberührt, mein Tagebuch ist also noch da. Ich bin sicher, die Existenz eines solchen Schriftstücks wäre ihm unerträglich gewesen, zumal er es ja nicht zu entschlüsseln vermag. Er hätte es an sich genommen oder vernichtet. Ich schaue mich in meinem Zimmer um. War es bisher für mich ein Ort der Ängste, ist es mir jetzt eine Art Asyl. Denn nichts kann entsetzlicher sein als jene grässlichen Frauen, die unbedingt mein Blut saugen wollten – und wollen.
18. Mai. – Ich plante, mir den Raum unten noch einmal zu besehen, und zwar bei Tageslicht, denn ich muss die Wahrheit ergründen. Als ich zu der bewussten Tür am Ende des Ganges kam, konnte ich sie nicht aufdrücken. Splitter lagen herum; anscheinend hatte jemand die Tür mit heftiger Wucht gegen ihren Rahmen gedrückt und diesen dabei beschädigt, wie herumliegende Splitter bezeugten. Abgeschlossen war die Tür zwar nicht, aber irgendetwas verhinderte von innen her das Öffnen. Es war wohl alles leider doch kein Traum. Daran werde ich mein Handeln auszurichten haben.
19.