Der Nicht-tot-Mord. Lena M. Grimm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena M. Grimm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960742036
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„Professor, Inspector, der Wagen ist abfahrbereit. Miss Dunham, würden Sie Julia und den Professor begleiten? Das wäre fantastisch.“

      „Selbstverständlich, Lord Berrington, es wäre mir eine Ehre.“ Das Rosa aus den Wangen hatte sich mittlerweile über das komplette Gesicht ausgebreitet. Der Kopf der Amme sah aus, als hätte sie soeben die ersten Sommerstrahlen genossen, ihr Teint war krebsrot.

      Drew wandte sich an die Frau. „Miss Dunham, ich glaube, es wäre gut, wenn Sie Miss Julia einen Mantel, einen Schal und eine Mütze anlegen würden. Handschuhe wären auch von Vorteil, es ist bitterkalt draußen. Ihre Vitalfunktionen sind auf ein Minimum zurückgegangen, die Kälte könnte wirklich ihren Tod bedeuten.“

      „Oh ja, natürlich, Professor. Ich werde ihr den wärmsten Mantel anziehen, den sie hat.“ Sie wuselte durch das Zimmer, öffnete den Schrank und zog einen langen marineblauen Mantel mit Fellkragen, einen dicken Wollschal, ein Paar schwarze Lederhandschuhe, dicke Wollsocken sowie schwarze Lederstiefel heraus. „Der Mantel ist innen mit Kaninchenfell gefüttert, die Handschuhe und Stiefel mit Lammfell“, erklärte sie.

      Sie schlug die Decke zurück und zog Julia als Erstes die Socken über. Anschließend setzte sie sie aufrecht an das Bettende gelehnt hin und fing an, ihre langen Haare zu bürsten, flocht sie zu einem dicken Zopf und steckte diesen anschließend zu einem Knoten zusammen. „Auch wenn sie schläft, soll sie ordentlich aussehen“, kommentierte sie ihr Tun.

      In diesem Moment war Jonathan einmal mehr froh, als Mann geboren worden zu sein. Jeden Tag die Haare fein frisieren, in ein monströses Kleid steigen und damit elegant herumlaufen, herumsitzen oder gar einen Ausritt machen ... Nein, allein bei dem Gedanken daran war er vollkommen erschöpft.

      Als Miss Julia fertig angekleidet war (auch wenn sie unter dem Mantel ihr Nachthemd trug), halfen er und Drew dabei, sie auf eine Trage zu manövrieren, und schnallten sie darauf fest, damit sie nicht herunterfiel. Als sie sie den Flur entlangtrugen und die Treppe nach unten in die Eingangshalle, stand sämtliches Personal bereit, um ihnen einen Korb mit Proviant für die Fahrt, eine wärmende Decke oder die besten Wünsche für Miss Julias Genesung mitzugeben. Die Nachricht von ihrem Scheintod hatte sich auf Sutherten verbreitet wie ein Lauffeuer.

      Als sie voll bepackt und aus der Puste endlich an der Eingangstür angekommen waren, eilte ein älterer Herr zu ihnen und öffnete sie. Clarkson erinnerte sich an ihn. Mellert, Simon Mellert. Er war der Gärtner des Guts.

      Er nahm seine Mütze vom Kopf und eine weiße Haarpracht kam zum Vorschein, für sein Alter war sie recht voll. „Sagen Sie, stimmt es? Wird sie wirklich wieder aufwachen?“

      „Ganz sicher kann man zwar nie sein, aber es besteht die Möglichkeit, ja“, antwortete ihm Isaac Drew.

      Sie traten hinaus ins Freie, wo schon ein Auto auf sie wartete. Clarkson wusste nicht, wieso, aber er war überrascht, obwohl es eigentlich keine Überraschung war, dass es auf einem Anwesen wie Sutherten ein oder mehrere Autos gab. Wahrscheinlich lag es daran, dass er lange keines mehr gesehen hatte. In Sutherten Hill besaß niemand ein Fahrzeug außer dem Postamt, und das auch nur, damit die Sendungen auf die Verteilämter der Nachbargemeinden oder nach London gebracht werden konnten. Meistens wurde die Post jedoch mit dem Zug mitgenommen.

      „Ich kenne die kleine Lady schon seit ihrer Geburt, sie war fast wie eine Enkelin für mich. Sie hat mich oft besucht im Garten. Damals bei dem furchtbaren Feuer war ich es, der sie aus dem brennenden Haus gerettet hat. Bitte, machen Sie sie wieder gesund, ja?“, flehte der Gärtner.

      Das war ja interessant.

      „Bei welchem Feuer? Ich dachte, als der Stall brannte, sei niemand zu Schaden gekommen?“, fragte Jonathan Simon Mellert.

      „Nein, nicht bei diesem Feuer. Es gab einen Brand, als Miss Julia gerade mal fünf Jahre alt war. Damals ist das halbe Anwesen abgebrannt. Die Kleine hatte mit ihrer Schwester Miss Helena gerade Verstecken gespielt, als das Feuer ausbrach. Miss Julia befand sich in einem Wandschrank, und als die Flammen schließlich auf dem Korridor angelangt waren, wo sie sich versteckte, fing sie an, zu schreien und zu weinen, so laut, dass ich sie von draußen hören konnte. Lord Berrington selbst wollte hineinstürzen, um sie zu retten, doch ich sagte ihm, er solle sich besser um seine Frau und Miss Helena kümmern, ich würde seine Tochter finden. Zum Glück wusste ich, wie die Geheimgänge für das Personal verlaufen, und so konnte ich sie schnell erreichen.“

      Interessant, interessant, interessant.

      „Und die Ursache des Feuers, wurde die gefunden?“, hakte der Inspector nach.

      „Ja, der Brandmeister stellte damals fest, dass das Feuer durch Funkenflug entstand. Er vermutete, dass die Heuscheune, die ebenfalls abgebrannt war, Feuer fing und dieses auf das Hauptgebäude übersprang.“

      Während Clarkson mit Simon Mellert sprach, hatten Lord Berrington und Isaac Drew die junge Lady in den Wagen befördert und waren nun dabei, sich zu verabschieden.

      „Komm, Jonathan, du kannst gern mitfahren bis zum Dorf“, rief Isaac seinem Freund zu.

      „Das Angebot nehme ich gern an“, antwortete dieser. „Auf Wiedersehen, Mr Mellert“, verabschiedete er sich von Simon, bevor er zum Wagen lief und mit Isaac und Miss Dunham einstieg.

      „Mach’s gut und werd bitte schnell gesund! Deine Mutter ist todunglücklich. Ich hab dich lieb, Minnie“, flüsterte Lord Berrington seiner Tochter ins Ohr.

      Es war merkwürdig, Lord Berrington, den Jonathan bisher nur gefasst und stark erlebt hatte, so väterlich zu sehen.

      Miss Dunham streifte Julia eine Decke über, öffnete den Picknickkorb und nahm ein Sandwich heraus. „Solche Aufregung macht mich immer hungrig“, erklärte sie schmunzelnd und biss hinein.

      *

      Kapitel 4

      Die Fahrt bis zu Bettys Gasthaus verlief ohne besondere Vorkommnisse. Das Spannendste, das passierte, war, dass sie beinahe eine todesmutige Katze überfuhren. Es war mittlerweile Nachmittag, schon nach drei Uhr, und Clarkson freute sich, dass er nicht mit nach London musste. Er konnte stattdessen ganz entspannt seinen Nachmittagstee genießen, nach dem Abendessen die Zeitung lesen und anschließend zu Bett gehen. Miss Dunham und Isaac jedoch mussten eine Fahrt nach London hinter sich bringen, und auch wenn es nicht weit entfernt war, war dies ein Stressfaktor, den Clarkson gern ausließ.

      Am späten Nachmittag würden sie vermutlich in der Stadt eintreffen und, Isaacs Arbeitsdrang nach zu urteilen, gleich die Untersuchungen vornehmen. Spät in der Nacht würden sie endlich zur Ruhe kommen, nur um am nächsten Morgen noch mehr Untersuchungen zu machen und Ergebnisse auszuwerten, um später eventuell schon wieder eine holprige Rückfahrt nach Sutherten Hill über sich ergehen zu lassen. Wenn sie wieder hier eintrafen, würden Tausende Fragen auf sie niederprasseln und sie würden nicht zur Ruhe kommen, ehe jede davon bis ins letzte Detail beantwortet wäre.

      Jonathan hingegen konnte sich auf eine Nacht voller entspannendem Schlaf freuen und am nächsten Morgen gut gelaunt und erholt aufwachen. Er grinste bei dem Gedanken in sich hinein, aber nicht aus Schadenfreude, sondern aus Freude darüber, endlich mal wieder eine ruhige Mütze voll Schlaf zu bekommen. Seine letzten Fälle hatten ihn regelmäßig des Nachts aus dem Bett geholt. Nicht selten sogar mehrmals.

      Zufrieden nahm er einen Schluck Tee. Er genoss die Stille, die stets um vier Uhr auf den Straßen Einzug hielt. Es war zwar immer recht still hier, dennoch hatten die Menschen ihre Arbeit zu erledigen. So hörte man regelmäßig das Knattern von Wagenrädern auf dem Pflaster, das Klackern von Absätzen und die Stimmen der Leute, die sich zufällig begegneten. Es war eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass sich jeder Bewohner des Dorfes um kurz vor vier Uhr auf den Weg nach Hause machte, um mit der Familie den Nachmittagstee zu genießen. Danach wurde die restliche Arbeit erledigt, ehe man um sieben Uhr zum Abendessen zurückkehrte.

      Jetzt um Viertel nach vier war es totenstill im Dorf. Jeder saß in seiner warmen Stube, teetrinkend und lachend, sich über die Geschehnisse des Tages austauschend.