Als Markus in Jeans und T-Shirt mit einer Plastikflasche Mineralwasser aus der Kabine springt, über den ölverfleckten Asphalt geht, um sich bei Sonnenaufgang drüben am Rand zur Wiese beim Maschendraht die Zähne zu putzen, und seine große, schlanke Gestalt einen langen Schatten wirft, streift mich eine Ahnung: Da geht einer, der das Erbe von Lucky Luke, dem guten alten Lucky Luke, in sich trägt, Tag für Tag auf seinem Klepper zu einem fernen Glück jenseits des Horizonts unterwegs, stets erkennbar an jenem schmalen Strich zwischen Himmel und Erde und an einer Zigarette im Mund.
Markus kommt mit Walo vom Zähneputzen zurück. Walo fährt wie Markus flüssige Lebensmittel für die Firma Transfood, wie der Schriftzug auf dem Auflieger zeigt. Walo soll uns heute mit seinem Sattelschlepper nach Genua begleiten und wieder zurück nach Lugano-Manno. So heißt der Ort, wo wir jetzt stehen. Jetzt warten wir, bis das Sonnenblumenöl aus unseren Tanks in die Silos hier abgepumpt ist. Das kann noch etwas dauern, und jede Minute, die wir warten, ist für die Kasse der Fahrer verschenktes Geld.
»Kennst du Genua?«, fragt Markus Walo. Ich freue mich auf wertvolle touristische, kulinarische oder kulturelle Tipps eines alten Europakenners.
»Zweimal war ich dort«, sagt Walo auf irgendwie Süddeutsch, »das letzte Mal war prima. Morgens früh hier laden, weg, verzollen, abladen, und abends gegen sechs stand ich in Horn am Bodensee vor dem Tor.«
Markus steckt sich die erste Zigarette an.
»Du rauchst wieder?«, sagt Walo.
»Waldluft«, sagt Markus, »Dunhill mit Menthol.«
»Na gut, du bist der Doktor, du musst es wissen.« Walo dreht einen Gabelschlüssel zwischen den Fingern. »Reinigen musst du nicht in Mailand.«
»Wo denn?«
»Nirgends, wir laden ja in Genua wieder das gleiche unappetitliche Zeug, das wir hier abladen. Mit dem gleichen dicken Bodensatz.«
»Sonnenblumenöl roh«, sagt Markus, »Lebensmittel.«
»Na und, das kontrolliert in Genua kein Schwein.«
»Meinst du, wir schaffens auch heute Abend bis Horn?«
Nach einer alten Regel der Kino-Dramaturgie sind Dialoge nicht der Rede wert, es sei denn, unter dem Tisch brenne eine Zündschnur. Das fällt mir ein, als sich die beiden so wortkarg den Tag zurechtlegen. Und ich habe den Eindruck, da knistere etwas, aber ich weiß nicht, was. Wahrscheinlich höre ich die Zeit zerrinnen und das Einkommen zerfressen. Auf einer Betonwand steht in schwarzer Farbe gesprayt: »Hic leones sunt. A. C. Milan«.
Walo vibriert vor Morgenfrische. Er hat übers Wochenende ganz allein in seiner Kabine gewohnt, weil sich der Weg zu seinem Wohnort Singen und zurück nicht gelohnt hätte – und er scheint es genossen zu haben. Er holt eine massive Spiegelreflexkamera aus seinem Auto, dessen Auflieger noch länger ist als der unsere, und zeigt uns die Früchte seines Müßiggangs auf dem Display. Mit dem Makro hatte er Marienkäferchen, einen Feuersalamander und eine Hummel fotografiert, die sich so weit in eine Sumpfblüte verkriecht, dass nur noch ihr geringeltes Hinterteil aus den Staubblättern guckt. Nicht weit hinter dem Parkplatz hat Walo eine soooolche Forelle in einem Flüsschen entdeckt.
»Das ist der Ticino«, sagt Markus. Einen Augenblick lang stellen wir uns diese Forelle brutzelnd in der Bratpfanne vor. Markus schaut beiläufig auf die Uhr, tritt etwas unruhig von einem Fuß auf den andern und klappert mit dem Zündschlüssel. Wenn wir nicht in Genua oder auf dem Heimweg am Zoll in Chiasso stecken bleiben wollen, sollten wir bald aufbrechen. Aber noch sind die beiden Autos erst halb entladen. Sie stehen vor einem Silo und werden immer noch leer gepumpt. Mit dem Sonnenblumenöl fließen auch die Minuten dahin. Ich begreife, dass Fahren zwar die schönste, aber nicht die einzige Truckerpflicht ist. Um uns die Zeit bis zum Start totzuschlagen, gehen wir alle für Kaffee und Cornetti hinüber in die Tankstellenbar. Dort säuselt Roberta Flacks Stimme:
Strumming my pain with his fingers, Singing my life with his words, Killing me softly with his song, Telling my whole life …
Der Charme des Girls an der Bar verpufft wirkungslos an ein paar Latzhosen-Männern, die schlapp und ausdruckslos über der »Gazzetta dello Sport« hängen. Danach hämmerte It’s a Man’s World in den Montagmorgen, der so heraufschleicht wie ein Sattelschlepper an einer gröberen Steigung. Als die Tanks endlich leer sind, ist in den Kaffeebechern schon lang nichts mehr drin. Markus knistert vor Energie. Von Weitem klickt er die Tür auf, um seine Geliebte zu wecken, und schwingt sich die fünf Tritte hoch Richtung Sitz. Noch bevor er ganz oben ist, greift er mit langem Arm um die Lenkkonsole herum, um dem Sekundenzeiger vorauszueilen und unverzüglich den Motor anzuschmeißen. Ein sattes Brummen steigt aus den Eingeweiden des Gefährts auf, während die Hydraulik unter unseren Thronen allmählich Druck aufbaut, sodass wir in einer Art Levitation sanft noch ein paar Zentimeter höher schweben. Und los gehts, hinter Walo her.
Lehrfahrt
»Schau, obs rechts gut ist«, sagt Markus. Bei der Ausfahrt aus dem Lagergelände kann er von seinem Platz aus die Einmündung rechts hinten nur schwer überblicken. Ich drücke auf den Scheibenknopf und strecke den Kopf aus dem Fenster. Die Straße ist übersichtlich und schnurgerade. Es ist »gut« fast bis zum Horizont. Dort flimmert etwas Chrom in der Sonne. Ich sage: »Rechts ist gut.« Bis Markus Gas gegeben, am Lenkrad gekurbelt und den Auflieger in unserem Rücken ganz um die Kurve gezogen hat, wartet das flimmernde Chrom in Form eines Opel-Kapitän-Oldtimers stehend darauf, wieder Fahrt aufzunehmen. So schnell steht man im Weg, wenn man so lang und langsam ist wie ein Sattelschlepper.
Von so hoch oben kommt mir alles ziemlich unwirklich vor, wie damals in den ersten Fahrstunden, mit zwanzig, als mir die Fahrzeuge mit ihrem Gewicht und ihrer Energie, die Scheiben und die Spiegel bloß virtuell vorhanden zu sein schienen. Ich hätte sie wie in den einfachen Computerspielen, die in den Spielsalons damals die Jumbo-Flipperkasten abzulösen begannen, ohne mit der Wimper zu zucken, rammen und umstoßen können, und wenn ich mein virtuelles Leben verwirkt hätte, für eine Scheidemünze von Neuem beginnen. Bloß vor den Lastwagen hatte ich damals etwas mehr Respekt. Jetzt, an Markus’ Seite, ändert sich die Perspektive, aus der Position der Stärke heraus haben die kleinen Fahrzeuge etwas Bedeutungsloses, Seelenloses, Vernachlässigbares an sich. So etwa könnten in vergangenen Zeiten die Ritter hoch zu Ross das gemeine Fußvolk eingeschätzt haben. Eine Dosis Sporen, und die Meute stob auseinander.
Drei Ampeln und eine Baustelle später habe ich mich ans Privileg der großen Übersicht gewöhnt. Der Rest ist Rollen. Leer, wie wir sind, rollen wir vorbei an gelangweilten Beamten durch den Personenwagenzoll in Chiasso, Richtung Italien, während sich die Beladenen von Norden wie von Süden her in kilometerlangen Kolonnen mühselig Richtung Schranke quälen.
Wir rollen durch die letzten Tunnels der Alpenverwerfungen und hinunter in die Poebene, wo sich der dichte Verkehr von der Schweiz her in die Breite der Autobahnen um Mailand ergießt. Von unserem Hochsitz aus kommt es mir vor, als ständen wir still und rollte die Erde unter uns weg. Links und rechts und vorne und hinten wimmeln die kleinen, lebendigeren Blechgeschöpfe um unsere Behäbigkeit herum, als wären wir ein Elefant. Schon bei leichtester Steigung scheinen wir noch größer, noch behäbiger zu werden: ein Mammut.
Von hinten und schräg oben betrachtet, wirken Personenwagen wie ein Schwarm von Insekten, die sich nach unergründlichen, immer wieder überraschenden Mustern bewegen. Jederzeit kann eines zu einem tödlichen Angriff ansetzen. Trucks folgen leichter erkennbaren Gesetzen. Rechte Spur, Einerkolonne, 89 km/h. Wenn einer nicht mithalten kann, setzen die schnelleren zum Elefantenrennen an. Es lebe die Steigung. Sie selektioniert. Asphaltfresser. Kilometermillionäre. Noch mal vier Jahre, und auch Markus wird zu ihnen gehören.
Natürlich ist die Fahrt ein Genuss. Der Thron mit allen Schikanen der Ergonomie, die göttliche Übersicht über das Gewimmel, ein Hochsitz, man fühlt