Antonia. Gabriella Zalapì. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriella Zalapì
Издательство: Bookwire
Серия: EDITION BLAU
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783858698780
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      5. Mai 1965

      Ich habe Nonnas Kartons hierhergeholt. Franco hat das Gesicht verzogen, als er gesehen hat, dass ich dafür ein ganzes Zimmer in Beschlag genommen habe. Onkel Ben hatte mir vor seiner Abreise gesagt, ich würde nichts darin finden. »In den Kartons sind nur alte Briefe und alte Fotos.« Ich allerdings vermute, dass sie Schätze enthalten. Der Möbelträger, der mir glücklicherweise in der Diele über den Weg gelaufen ist, hat gesagt, dass der Rest der Möbel am Mittwoch gebracht wird. Um elf Uhr soll er zwei Bücherregale und einen Schreibtisch in Francos Kanzlei abliefern. Dann fahren sie zusammen zu Francos Eltern, um dort andere Möbel abzustellen (er konnte mir nicht genauer sagen, was). Erst ganz am Schluss kommen sie hierher. Diese Aufteilung ist unfassbar. Franco hat eine Plünderung organisiert.

      10. Mai 1965

      Franco mit seinem Priesterrücken bringt mich zur Verzweiflung. Ich ertrage ihn nicht mehr:

      seine kleinen, zwanghaften Gesten, wenn er seine Sachen zusammenlegt

      seine Manie, sich laut zu schnäuzen, bevor er ins Bett geht

      seine grauenvollen gestreiften Pyjamas, Geschenke seiner Mutter

      sein geräuschvolles Ausspucken, wenn er sich die Zähne putzt

      seinen weißen, schlaffen Körper

      Um ihn zu meiden, suchte ich früher noch nach einer Entschuldigung und verzog mich aus dem Schlafzimmer, jetzt sage ich nichts mehr. Die Gewohnheit hat ein fast vertrautes Schweigen hervorgebracht. Ich gehe hinaus und setze mich an Arturos Bett, er schläft wie ein kleiner Engel. Sein Gesicht und sein Atem im Halbdunkel beruhigen mich. Wenn ich aus dem Zimmer komme, öffnet diese Hexe von Nurse unweigerlich die Tür und fragt leise, aber scharf: »Stimmt etwas nicht?«

      »Nurse«. Ich habe über das Wort nachgedacht. Es verstärkt das Gefühl, mit einer Fremden zusammenzuleben. Sie bleibt unergründlich. Wer ist diese Frieda? Ja, sie hat Familie in Nordengland, ja, sie mag klassische Musik, ja, sie hält eine sehr strenge Diät, ja, sie geht jeden Morgen in die Messe. Franco sagt: »Sie soll ihre Arbeit machen, das ist alles, was uns interessiert.« Er hat sie über eine bekannte Agentur für ausgebildete Kindermädchen gefunden, sie übt den Beruf seit dreißig Jahren aus. Und wennschon! Ich verpasse eine Gelegenheit nach der anderen, meinen Sohn zu lieben.

      Erledigen:

      Zum Friseur gehen

      Medikamente für Arturo kaufen

      Champagner bestellen

      Lampe

      28. Juni

      Vielleicht erwacht man eines Tages mit der Leere, nicht der gewesen zu sein, der man sein wollte. Wo habe ich diesen Satz gelesen? Seither sehe ich meine Umgebung mit anderen Augen, wenn ich morgens aufwache. Die Welt erhält Tiefe, Volumen, einen Geruch. Aber das kleine Wunder verflüchtigt sich sehr schnell und wird von erbarmungsloser Tageseintönigkeit abgelöst.

      Meine Ehe ist nicht das, was ich erhoffte. Seit Arturos Geburt vor acht Jahren hat sich Francos Zuwendung abgenutzt. Er betrachtet sich morgens im Spiegel, zieht seinen Scheitel und seine Krawatte gerade und verabschiedet sich bestenfalls jeden zweiten Tag von mir, wenn er in die Kanzlei geht. Ich war so lächerlich naiv, als ich ihn geheiratet habe. Ich soll einfach nur gehorchen, das Haus in Ordnung halten und die Erziehung unseres Sohnes überwachen. Weiter nichts. Ich bin ihm unterworfen, verpflichtet.

      Als ich gesagt habe, dass ich gern arbeiten würde, war Francos Antwort: »Was würden die Leute sagen? Du hast doch alles, was du brauchst. Frauen in deiner Stellung kümmern sich darum, Abendgesellschaften zu organisieren, und auf dem Gebiet kannst du noch einige Fortschritte machen.« Er begreift nichts, nichts, nichts. Ich bin neunundzwanzig. Meine Wünsche verhallen, versinken ungehört. Unmöglich, mir für den Rest meiner Tage ein Leben als perfect house wife vorzustellen. Wie gern würde ich dieses Korsett abwerfen, dieses Frau von, Mutter von. Ich will nicht mehr so tun als ob.

      3. Juli 1965

      Gestern ist Großvater am Flughafen angekommen. Ich habe ihn mit Arturo abgeholt. Vati. Er ist alt geworden. Seine Haare sind jetzt ganz weiß, seine dicken Augenbrauen aber immer noch rabenschwarz. Wie lange wird er die Reise von Teresópolis noch machen können? Er bleibt zwei Wochen bei uns. Ich bin glücklich, den Klang seiner Stimme und seinen einzigartigen Akzent zu hören. Unsere Vertrautheit, seine Gesten, sein Lachen wiederzufinden und seine Augen, die ständig etwas suchen. Er ist immer noch genauso lebhaft und akkurat. Immer noch genauso elegant mit seiner schlanken Figur, und wie er den Kopf hält!

      Ich denke an die Zeit zurück, als Vati einen wichtigen Platz in meinem Leben einnahm. Das war in Florenz, als ich im Internat war. Damals hat er angefangen, mir einmal in der Woche zu schreiben. Ich höre noch die Stimme der Direktorin, Mrs Holmes, die vom unteren Ende der Holztreppe »Po-ost!« heraufrief. Dann das wilde Gerenne, die lauten Schritte meiner Kameradinnen auf den Stufen. Die Freudenrufe. Die der Enttäuschung. Ich zog mich am liebsten in mein Zimmer zurück, um Vatis Briefe zu lesen. Unter Tausenden würde ich seine Frakturschrift und das cremefarbene Papier erkennen, das er benutzte. Ich schnupperte immer erst am Umschlag, bevor ich ihn öffnete, in der Hoffnung, seinen Duft oder etwas Exotisches zu riechen. Ich war die Einzige, die Post aus so weiter Ferne bekam, aus Brasilien … ein anderer Planet. Er begann jeden seiner Briefe mit Meine geliebte Antonia und unterschrieb mit Dein Vati. Sie enthielten Neuigkeiten über seine Gesundheit, sein Leben in Teresópolis, meine Mutter (die mir nur förmliche Grußkarten zum Geburtstag oder zu Weihnachten schickte). Dieser Briefwechsel hat das Band zwischen uns besiegelt. Er schrieb mir, ich sei die Tochter, die er gern gehabt hätte. Seine Zuneigung war beruhigend und gab mir Kraft. Nonna und er waren meine Schutzengel. Vati hat mich bei meiner Hochzeit zum Altar geführt. Ich war so stolz, an seinem Arm in die Kathedrale zu kommen. Ich höre noch seine Worte, als wir durch das Portal traten: »Komm, meine geliebte Antonia. Geh erhobenen Hauptes. Denn heute bist du eine weiße Callablüte.«

      Vati ist für zwei Monate in Europa. Seine weitere Reiseroute: Neapel, Florenz, London, um Antiquitätenhändler zu treffen und Raritäten aufzutreiben. Genf, um seine Tochter und seine Exfrau, Mutti, zu besuchen. Zürich wegen seines Bankiers. In Nizza trifft er sich mit Freunden. Kitzbühel zur Erholung. Von Madrid fliegt er zurück nach Rio. Beim Abendessen hat er uns begeistert erzählt, dass er auf der Suche nach Objekten für seine neue Freundin Evelyn ist. Sie möchte in Rio ein Museum eröffnen, und er berät sie. Er hat sie in New York bei einem gemeinsamen Freund kennengelernt, der ebenfalls Gemälde sammelt. Wie Vati hat auch Evelyn Österreich in letzter Minute verlassen, sie ist kunstbesessen wie er und wird wie er nie nach Wien zurückkehren.

      Ist es möglich, dass Vati sein Leben in Brasilien einfach neu angefangen hat? Er redet nie vom Krieg, von Verrat, Erniedrigung oder Raub. Nichts über seine Eltern, die in den Lagern ermordet wurden. Nichts, nichts, nichts.

      Arturo lässt ihn nicht aus den Augen.

      4. Juli 1965

      Wie ich mich gefreut hatte, Vati wiederzusehen, mit ihm an den Strand von Mondello zu fahren! Den Sand unter meinen Füßen zu spüren … und nun stehe ich mitten in der Wüste. Nach dem Spaziergang haben wir uns nebeneinander in das Café direkt am Meer gesetzt, und ich habe mich getraut, ihm von meinen Zweifeln wegen Franco, meiner Unzufriedenheit als Mutter, meinem Gefühl des Nichtseins zu erzählen. Ich hatte den Blick aufs Wasser gerichtet und war so darauf konzentriert, die richtigen Worte zu finden, um ihm zu erklären, wie sehr dieses öde Leben auf mir lastet, dass ich nicht bemerkte, wie sich sein Gesicht veränderte: Als ich ihn ansah, war er ganz bleich geworden. Er war wie versteinert, und seine Stimme kam wie aus dem Jenseits, als er mich mit seinen schwarzen Augen ansah und sagte: »Beklag dich nicht, du hast eine Familie. Es ist deine Aufgabe, sie glücklich zu machen. Ist dir klar, wo du lebst? Wie du lebst? Du solltest zufrieden sein!« Er betonte immer wieder,