Schwarzen Buchs der Verfluchten -
Was zuletzt geschah:
»Sie bewachen mich, doch meine Träume können sie nicht kontrollieren.«
»Sag mir, was ich tun kann, um wieder bei dir zu sein«, wollte Ewan wissen. Er sah sie häufiger in seinen Träumen, doch heute stand er ihr zum ersten Mal persönlich gegenüber. Von Angesicht zu Angesicht. Es war, als wäre seine Seele wirklich hier, an diesem verlassenen Ort im Herzstück des Himmels. Er bräuchte nur die Hand auszustrecken, um Elaia zu berühren. Und doch zögerte er.
Die Göttin schüttelte den Kopf. »Du erinnerst dich also … Fühlst du es noch?«
Die Frage ließ Ewan stocken. Er wollte sie nicht anlügen. Theoretisch wussten sie es beide bereits. Die Gesandten hatten es ihnen gesagt und sie hatten Recht behalten: seit dem Moment, in dem Elaia die Erde verlassen hatte, entsprachen Ewans Gefühle für sie nur noch einer blassen Erinnerung.
Aber solange er sich erinnerte, würde er nicht aufhören, daran zu glauben.
Sie nickte wissend. Er musste es nicht aussprechen. »Hör zu, Ewan. Ich kann dir gegen die Gesandten nicht helfen. Mir sind die Hände gebunden, weil sich im Rei herumgesprochen hat, dass du himmlische Hilfe bekommst. Die Gesandten können deine Spur nicht aufnehmen, sie ist verschwommen. Du bist unsichtbar für sie.«
»Was? Aber wie kann das sein?«
»Ich bin es nicht. Du hast jemand anderen aus dem Himmel, der dir hilft.« Ihr Blick ließ ihn los und glitt stattdessen nach hinten zu Kiara, die mit verschränkten Armen vor dem Seelenteppich stand und ihn mit einer Mischung aus Skepsis und Faszination musterte. »Wieso ist sie hier?«, fragte die Göttin. Sie hatte Ewan diesen Ort einst gezeigt. Vermutlich gefiel es ihr nicht, dass er nun eine andere Seele hierherbrachte. Einen Menschen.
»Sie … sie ist mit mir verbunden. Ich wollte, dass sie versteht, was vor sich geht.«
»Du hast ihr Blut getrunken«, schlussfolgerte Elaia nüchtern.
Ewan sah in ihren Augen, dass sie diese Tatsache nicht erfreute, auch wenn sie keine Miene verzog.
»Es ist nicht so, wie du denkst. Ich wollte sie büßen lassen. Ich wollte ihr Leben zerstören, dafür, dass ich dich verloren habe …«
»Und das hast du auch getan. Ihr Leben zerstört.« Elaias Blick landete wieder auf ihm. »Das mit uns ist vorbei. Vergiss deine Rachepläne.«
»Aber –«
»Vergiss sie, Ewan!« Sie sah ihn flehend an. »Du musst überleben, das ist das Einzige, was zählt.«
Ein plötzliches »Nein!« unterbrach ihr Gespräch. Schockiert von der neuen Stimme drehte Ewan sich um und sah niemand Geringeren als Falk, der mit ihnen im Raum stand, als hätte Ewan ihn mit in die Wirklichkeit genommen. Den Milchbuben, der ein so schönes Druckmittel für Kiara abgegeben hatte.
»Was tust du hier?«, grollte er, während ihm die Antwort bereits dämmerte. Es gab schließlich nur eine einzige Erklärung für sein Erscheinen an diesem Ort. Nur eine einzige logische Schlussfolgerung:
Falk war kein Mensch. Er hatte sie die ganze Zeit hinters Licht geführt.
1. gone too far
Warum darf Gott über das Schicksal einer jeden Seele entscheiden?
Warum dürfen die Menschen nicht wissen, dass es den freien Willen nicht gibt?
- aus dem Schwarzen Buch der Verfluchten -
Jeder träumt in seinem Leben von einem Abenteuer, das er nicht vergisst. Ein Abenteuer, bei dem wir uns lebendiger fühlen als je zuvor, das die Schatten der Vergangenheit verdrängt. Eine Erinnerung an eine Zeit, die uns auch in der Zukunft, wenn es gerade mal nicht so rosig läuft, aufatmen lässt, die uns Gerüche, Gefühle und Bilder zurückschenkt, in die wir jederzeit wieder eintauchen können.
Ich war als Teenager oft vor meinem Leben geflohen, um mich in Abenteuer zu stürzen. Denn in diesen adrenalingeladenen, einzigartigen Momenten fühlte ich mich lebendiger als in meinem tristen Alltag, der von Leid geprägt war. Von Verlust. Von Leere.
Keines meiner damaligen Abenteuer ließ sich mit dem jetzigen vergleichen. An Ewans Seite hatte ich mich so lebendig gefühlt wie seit Jahren nicht mehr und das, obwohl ich dem Tod näher war als jemals zuvor. Ewan war gleichzusetzen mit Lebensgefahr. Trotzdem klammerte ich mich an seine Gegenwart, weil ich gar nicht anders konnte. Mein Herz schlug schneller, wenn ich bei ihm war. Und dann manchmal wiederum blieb es fast stehen. Doch das Wichtigste war: Ich hatte mich auf dieser Reise frei gefühlt, obwohl ich im Grunde nicht viel mehr als eine Gefangene war.
Jetzt kannte ich auch den Grund für meine widersprüchlichen Gefühle; warum ich mich früher immer eingesperrt gefühlt hatte, eingeengt von meinem eigenen Sein, unfähig, die richtigen Entscheidungen zu treffen, ständig mit dem Gefühl, an meinem Leben nichts verändern zu können. Als hätte ich es tief im Inneren schon immer gewusst: Menschliche Seelen waren in einem Kreislauf gefangen, den sie immer und immer wieder durchlebten. Dasselbe Leben hundertmal. Millionenmal. Ohne je etwas davon zu merken. Doch nun war etwas anders. Ewan hatte mich aus meinem Kreislauf gerissen. Ich war frei, traf Entscheidungen, die ich nie zuvor getroffen hatte, beschritt Wege, die meine Seele noch nie passiert hatte, fühlte Dinge, die ich nie hätte fühlen sollen.
Ich wusste, was es bedeutete, dass Ewan mich aus meinem Kreislauf gerissen hatte. Er hatte sich wie ein Fremdkörper darin eingenistet und alles zerstört. Er tat Dinge, die er nicht hätte tun dürfen. Führte mich in eine Welt, von der ich nie hätte erfahren sollen. Das bedeutete für mich, dass ich nach meinem Tod ebenfalls von den Göttern verdammt werden würde. Dazu verdammt, meinen Platz im System für immer zu verlieren, eine Ewigkeit zu existieren, für immer auf der Flucht. Auf ewig im Verborgenen.
Als mir das in dieser Nacht klar wurde, verspürte ich dennoch keinen Hass gegen meinen Befreier. Nicht einmal Angst. Ich sollte wütend auf Ewan sein, weil er mich da mit hineingezogen hatte. Doch ich war es nicht. Denn mit dem Wissen, das ich jetzt hatte, eröffneten sich mir so viele neue Möglichkeiten. Plötzlich wurde mir bewusst, worüber ich früher immer nur frustriert gewesen war. Jetzt ergab alles einen Sinn.
Die Menschen waren nur kleine, bedeutungslose Rädchen in einem Uhrwerk von etwas Größerem. Und ich war nun Teil dieses Etwas. Ich war endlich frei. Wie ein Tier, welches seinem Käfig entkommen war.
Als ich zu mir kam, dauerte es mehrere Sekunden, bis die Erinnerungen sich zusammenfügten wie verlorengegangene Puzzleteile eines Gesamtbildes. Schwerfällig hob ich die Lider und Sonnenlicht flutete meine Netzhaut. Die Bilder vergangener Nacht kamen nur stockend, wie Wellen, die das Ufer erreichten. Sie spülten Erinnerungsfetzen an Land: Das Gespräch mit Ewan in seinem Zimmer. Die Nacht, die ich erneut neben ihm in einem Bett verbracht hatte. Mein Traum. Viele silberne Kreise, die ineinander gehakt waren und sich zu einem unendlich großen, schimmernden Gebilde zusammenfügten. Die Wirklichkeit.
Plötzlich war ich hellwach und setzte mich auf. Mein Kopf fuhr in alle Richtungen und obwohl ich davon Kopfschmerzen bekam und mir schwindelig wurde, hatte es das gewünschte Resultat: Ich wusste, wo ich mich befand.
Ich war nicht mehr in dem dunklen Raum, in dem sich alles so unwirklich angefühlt hatte, der kein Ende und keinen Anfang besessen hatte. Der einfach nur da war. Ich war zurück in dem Gästezimmer, in dem Falk und ich unsere erste Nacht in der Hütte verbracht hatten.
Ich wollte gerade vom Bett aufstehen, als ich die Handschellen bemerkte. Nicht schon wieder. Fluchend sah ich mich in dem Zimmer um.
Von Ewan und Falk war keine Spur. Die Tür zum Zimmer war geschlossen. Durch das kleine Fenster schien die Mittagssonne.
Während