Die falsche Witwe. Ulrike Schmitzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrike Schmitzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005556
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Schlechte hat auch sein Gutes«, sagt sie. Er habe ihr damit erspart, sich entscheiden zu müssen, unter welchem Namen sie ihn begräbt. »Als ob er seinen Tod vorausgeahnt hätte«, sagt sie.

      »Dann war er also doch mein Vater. Ich hab’s immer gewusst.« Das ist das Einzige, was meine Mutter an diesem Abend sagt.

      Großmutter schweigt.

      Mutter nimmt den Autoschlüssel von der Kommode, wo sie ihn immer hinlegt und geht grußlos. Ich küsse Großmutter auf die Wange und laufe ihr nach.

      »Fahr du das Auto heim, ich geh ein Stück«, sagt Mutter und drückt mir den Autoschlüssel in die Hand.

      »Ich hab ihn verstecken müssen«, hat Großmutter gesagt.

      »Sie hat uns die ganze Zeit belogen. Beide haben uns die ganze Zeit belogen. Wie konnten sie nur so egoistisch sein? Die haben sich doch einen Dreck darum gekümmert, was mit uns ist. Wir sollten sie klagen, nicht die anderen! Wegen seelischer Grausamkeit sollte sie jetzt vor Gericht stehen. Was habe ich mir immer Gedanken gemacht, wie unser Papa gestorben ist, ich hab ihn auf einem eisigen Feld liegen sehen, in einem dreckigen Graben, von Laub zugeweht. Ich hab mindestens tausend verschiedene Szenarien für seinen Tod erfunden. Als Kind hab ich jeden Abend beim Einschlafen eines entwickelt, und oft habe ich ihn in letzter Sekunde vor dem Tod gerettet, oder er starb in meinen Armen und küsste mich noch ein letztes Mal auf die Stirn, ich habe ihn in einem riesigen Lazarett gefunden, wo er seit Jahren ohne Gedächtnis und Identität vor sich hin vegetierte und ihn keiner kannte, doch dann kam ich und als er mich sah, konnte er sich an alles erinnern, er lachte mich an und alles wurde gut.«

      »Davon hast du nie was erzählt«, sagt Anna, als Eva ihren Redefluss unterbricht.

      »Natürlich habe ich nie etwas davon gesagt. Das war meine geheime Welt mit Papa. Du hättest mich sowieso nur ausgelacht.«

      »Vielleicht«, räumt Anna ein.

      »Hattest du nie solche Fantasien?«, fragt Eva.

      »Nein«, sagt Anna.

      »Ich weiß nicht, ob ich ihr das je verzeihen kann. Ich bin echt sauer. Und das Ärgste ist, dass sie es uns nie gesagt hätten. Was, wenn sich eine von uns zwei auf die Suche nach unserem Vater gemacht hätte. Wenn wir wie so viele auf Spurensuche gegangen wären und sein Schicksal genau erforscht hätten? Was hätte sie dann gemacht?«

      »Sie haben schon dafür gesorgt, dass wir nie auf die Suche gehen werden. Sie haben uns schon so erzogen, dass wir nicht suchen.«

      »Ich könnte das meinen Kindern nie antun«, sagt Anna.

      »Du belügst deine Kinder doch auch«, sagt Eva.

      »Wann bitte belüge ich meine Kinder?«, fragt Anna gereizt.

      »Jeder Erwachsene belügt seine Kinder«, weicht Eva aus.

      »Aber doch nicht bei so was. Nicht bei so was! Bei irgendwelchen belanglosen Kleinigkeiten, bei Banalitäten, die den Alltag erleichtern. Oder beim Christkind, beim Nikolaus, was weiß ich – um ihnen ein Stück Kinderglück zu erhalten. Aber sie hat uns ins Unglück gestürzt. Sie hat uns Kindern einen Verlust beschert, den wir nie erleiden hätten müssen.«

      »Ich weiß noch, wie herzzerreißend du geheult hast. Ich habe mich damals noch gewundert, denn du hast erst zwei Tage später losgeheult. Als sie uns sagte, dass er tot ist, hast du gar nichts gemacht.«

      »Das weißt du noch?«, fragt Anna überrascht.

      »Ich war älter als du. Du hast so ein Theater gemacht, als sie seine Schuhe für den Garten angezogen hat. Du hast so lange geschrien, bis sie sie wieder ausgezogen hat.«

      »Echt? Ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern.«

      »Dafür hast du mich«, sagt Eva.

      »Dann war er also unser Vater. Mein Gott, ich wäre viel netter zu ihm gewesen. Weißt du noch, wie ich ihn angebrüllt habe, hochpubertär, dass er mir gar nichts anzuschaffen hat. Dass es ihn überhaupt nichts angeht, mit wem und wie lange ich fortgehe.«

      »Er ist immer hinausgegangen. Wenn es brenzlig wurde, ist er aus dem Zimmer gegangen«, sagt Eva.

      »Deswegen. Vielleicht hatte er Angst, sich nicht mehr beherrschen zu können, zu viel zu sagen. Damals hat es mich wahnsinnig gemacht. Ich dachte immer, dass ihm alles egal war.«

      »Du warst ihm sicher nie egal. Wenn ihn jemand auf die Palme brachte, dann warst das doch immer du«, sagt Anna.

      »Das stimmt. Weißt du noch, wie er herumgebrüllt hat, als ich mit dem Vespa-Roller los bin?«

      »Da warst du doch erst 14!«, erinnert sich Anna.

      »Glaubst du, dass es das alles wert war? Unsere Trauer, unsere Tränen? Und dass wir ihn immer als Fremden betrachtet haben? Warum hat sie das bloß getan?«

      »Das musst du sie fragen. Für mich gibt es keine Entschuldigung«, sagt Anna.

      4

      Ich gehe nicht mehr in die Schule, sagt Eva. Die Mutter öffnet die Türe so laut wie man eine Türe nur öffnen kann. Sie stürmt ins Zimmer, reißt ihr die Decke weg und macht das Fenster auf. Eva ist eiskalt.

      »Aufstehen«, sagt sie und verschwindet auch schon wieder.

      »Ich gehe nicht in die Schule«, sagt Eva. Sie sagt es so leise, dass es die Mutter nicht hören kann.

      »Doch«, sagt die Mutter und steckt den Kopf durch die Tür, »und ob du gehst«.

      Eva hat in der Schule erzählt, dass ihr Vater noch im Krieg ist und alles wieder aufbaut, was die anderen zerstört haben. Er ist ein Held und hat einen Preis bekommen, weil er so schöne Häuser und Brücken baut. Das könne sie sogar beweisen, weil sie einen, sogar viele Briefe von ihm habe, hat Eva gesagt. Und sie könne auch die vielen Bilder mitbringen, die in den Kuverts von ihrem Vater waren. Eva hat aber keine Briefe. Und sie hat keine Bilder. Sie hat gar nichts. Sie hat die anderen jetzt schon zwei Wochen hingehalten. Du lügst doch, hat Elfi gesagt. Eva hat sie geschlagen, bis Elfi sich gekrümmt hat. Die Lehrerin hat nichts bemerkt.

      »Ich habe Bauchweh«, sagt Eva zur Mutter.

      »Warum du immer Bauchweh hast«, sagt die Mutter und hilft ihr in die Jacke. »Aber du gehst jetzt, und wenn es nicht besser wird bis zehn Uhr, kommst du wieder.«

      Eva lässt sich auf dem Weg viel Zeit und überlegt, was ihr alles zustoßen könnte, bevor sie bei der Schule ankommt. Sie könnte sich auf die Zugschienen legen, dann müssten sie ihre Körperteile für das Begräbnis zusammensuchen. So wie bei Ullas Schwester. Sie könnte vom Traktor überrollt werden. Sie könnte aber auch in den Fluss stürzen und erst nach der Grenze in Freilassing aus der Salzach gezogen werden, nachdem die Fische bereits ihr Gesicht zerfressen haben.

      Eva kann nicht wissen, dass sich heute niemand für sie interessieren wird. Die Lehrerin wird einen Brief bekommen und sie wird weinen und die Kinder werden in der Pause nur mehr über sie reden. Die Lehrerin wird noch ein paar Tage da sein und dann werden sie eine neue Lehrerin bekommen. Niemand wird Eva mehr nach ihrem Vater fragen. Sie wird die Einzige sein, die ihn nicht vergessen hat.

      Ein paar Tage später macht sie noch einen Versuch. Die Mutter ist gut gelaunt. Sie hat von irgendjemandem ein ganzes Glas Schweinefett bekommen und das macht sie glücklich. Eva setzt sich zu ihr auf die Eckbank und fragt, was sie schon die ganze Zeit fragen wollte:

      »Du, Mama, warum ist der Papa fortgegangen?«

      Weil sie so gut aufgelegt ist und die Küche noch nach dem gerade gebratenen Schweinefett riecht, antwortet sie geduldig.

      »Der Papa hat sich freiwillig gemeldet. Er ist in den Krieg gegangen, das weißt du doch.«

      »Wann kommt er denn wieder?«, fragt Eva.

      »Der Papa kommt gar nicht wieder«, sagt die Mutter und verscheucht sie von ihrem Platz auf der Eckbank, weil sie ausgerechnet