Das lange Echo. Elena Messner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elena Messner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005600
Скачать книгу
anders. Es scheint dir nämlich, dass du plötzlich in Abhängigkeit von vollkommen unbegreiflichen Übermächten stehst. Nicht mehr in Abhängigkeit von jener verstehbaren Macht deines Reiches, des Kaisers oder der ordnenden Struktur deiner Gesellschaft. Sondern, ganz und gar hilflos, hier, im Freien, neben den zehntausend anderen, bist du nur noch ein dem Zufall, dem Chaos und der völlig unlenkbaren Welt, die sie Krieg nennen, ausgesetztes Wesen. Hier und heute, wo in unhörbar lautem Lärm alles in Licht und Schatten verschwimmt, da lässt sich, was du als nicht infrage gestellte Macht über dir kanntest, die dich schützen sollte und die du schützen solltest, diese Macht lässt sich plötzlich mit anderen Augen, nämlich weit aufgerissenen, ansehen, und so wirkt diese alte Macht, die dir nun gar nicht mehr als beruhigende Gewohnheit vertraut ist, plötzlich unglaublich fremd auf dich. Das Licht, diese grelle Sonne über dem weiten Feld, auf dem du stehst, wo dich die halb eingegrabenen Beine und Arme anderer Kreaturen anstarren, in diesem unglaublichen Licht bist du ganz fremd geworden. Es zerbricht alles um dich herum in unzählige kleine Farbflecke, die du nicht mehr fassen kannst, die Welt zersplittert dir in tausend blendende Lichtstückchen. Du siehst alles und begreifst es nicht. Und weißt doch nur eines: In diese dem Zufall und dem täglichen Tod ausgesetzte Welt, die sie Krieg nennen, hat dich gerade dein Reich, das dich zu schützen versprochen hatte, entlassen. Ist es eine Erkenntnis, das, was du da hast? Wenn es eine ist, dann muss sie ganz rasch wieder in die Dunkelheit zurück, aus der sie ausgebrochen ist, weg mit dir, weg mit dir, das darf doch alles nicht wahr sein!

      Du warst ja immer unpolitisch, kaisertreu und ordentlich, nie hast du dich etwas gefragt, wenn du Dinge gesehen hast, die störten, die andere verstört zurückließen. Nie hast du Sympathie für wirre Ideen gehabt, stolz warst du, als Slowene, in dieser Armee, als Offizier, hart erkämpft, schon von deinem Vater, der ja auch unter dem gleichen Kaiser, diesem ewig lebenden Kaiser diente, der dir später den Vater ersetzte, nachdem dein leiblicher Vater gestorben war. Besser unpolitisch bleiben, da warst du ganz sicher. Du wärst ja schön blöd, dich von den krausen Überlegungen mancher Landsmänner und Landsfrauen anstecken zu lassen, über das sogenannte Schicksal deines Volkes nachzudenken. Welches Volk denn bitte, was soll das mit dir zu tun haben und wie? Oder von den Parolen anderer, die von einem Mehr an Demokratie fantasierten … was für ein Firlefanz, diese Idee, dass ein Volk echte Macht haben könnte und regieren sollte, und dass alle gleich sein sollten in einem Land. Das war ein dummer Witz, den du dir manchmal hast erzählen lassen. Stolz warst du, ohne Unterschied der Race und der Religion, da warst du ganz sicher, ganz ohne Unterschied behandelt zu werden. Weil der Unterscheid zwischen dir und dem einfachen Soldaten, zwischen dir und dem hungrigen slowenischen Menschen in Ottakring, zwischen dir und dem böhmischen Wiener Mäderl, das ihr Kind in der Fabrik neben dem Ziegelofen zur Welt bringt, oder dem kroatischen Bauernsohn mit seinen zerfurchten, schwarzen Händen, zwischen dir und den in Schichten arbeitenden Bettgehern, den Bäckerinnen und den Briefträgern, den Wäscherinnen und den Druckern, mit ihrer von der »Wiener Krankheit« grau gefärbten Haut, die du nie zu Gesicht bekamst, zwischen dir und dem italienisch stammelnden Matrosen oder der grimmigen slowakischen Marktfrau, zwischen dir und dem griesgrämigen Wiener Trambahnfahrer mit seiner dir unverständlichen Hernalser Sprache, dieser Unterschied war ja viel größer als, zum Beispiel, der Unterschied zwischen dir und dem deutsch sprechenden Offizier, mit dem du auf Du warst, weil du ja mit allen Offizieren auf Du warst, weil ihr alle die letzten Ritter der Reiches … Wieso hättest du auch politisch sein sollen, es war alles schön geordnet in deinem Haushalt, du warst gut unterhalten in deinem Wien und sehr gut bewirtet, wie es sich für einen Offizier gehörte. Doch jetzt, auf einmal, wirst du etwa, was?, politisch? Panisch, würde der Conrad von Hötzendorf sagen, reine Panik, und da ist überall ein Zweifel.

      Da ist dir der Offizier, der Gefangene erschießen lässt, der die Frauen in ihren bunten Trachten vor sich hertreibt mit seiner Pistole – wer weiß, wohin –, der ist dir plötzlich widerwärtiger als deine Soldaten, die vor dem Krieg nichts hatten und niemand waren, bei denen du aber doch irgendwie verstehst, wenn sie nach Hause wollen, zum Nichtssein und Nichtshaben zurück, und wenn sie zittern, weil du ja selbst auch! zitterst, bloß inwendig. Ja, weil du vielleicht, innerlich, weißt, nachdem du gesehen hast, wie selbst die Offiziere reihenweise nachbesetzt werden, weil alle gefallen sind, weil du gesehen hast, wie der Nachschub immer so spät einsickert, langsam, in deine Mannschaften, wie weitere Soldaten nachkommen und weiter nachkommen müssen, weil da alle, der Reihe nach, umfallen in den Schlamm. Weil du weißt, wirklich und endgültig, dass dein Leben und das deiner Mannschaft keinen Scheißdreck wert ist. Sind ja andere auch nicht zurückgekommen, und hat das jemandem was ausgemacht? Wem denn, bitteschön? Ahnst du nicht, wie das weitergeht, wenn du dich umsiehst, gestern, heute, morgen: die Tauglichkeitskriterien, die gesenkt werden, die Landsturmpflicht, die ausgedehnt wird? Das ist ein bloßes Zahlenspiel, eines, das du nicht durchschaust, oder du durchschaust es wohl, aber es gruselt dich so sehr, wenn du da hindurchschaust, wenn du durch diese Zahlen und die damit Spielenden hindurchschaust, es graut dir, sodass du es sein lässt, das Hindurchschauen. Würdest du noch weiter mit den Krankenzahlen und den Gefangenenzahlen und den Gefallenenzahlen jonglieren, dann würdest du schon sehen, dass es irgendwie unheimlich ist, dieses Herumrechnen, komisch und unheimlich. Also tust du es nicht. Das Jonglieren überlässt du den Clowns in Wien, mit ihren angemalten, geölten Gesichtern. Du merkst nur, merkst dir gut, wie viele in den Schlamm gefallen sind. Auch das muss man, kann man, in die Nacht schieben, in einem Traum auflösen, diese Zweifel und Ängste, denn es geht um ein Weitergehen, Vorbeigehen, um ein Vorwärts, nur jetzt in die andere Richtung.

      Du gehst noch immer, auf deinen Beinen, gehst vorüber. An den Orten vorbei, wo … Rade aus Likodra, 60, Bauer, beraubt, von zwei Männern ins Feld geführt und mit dem Bajonett … einer in die Brust, der andere durchs Ohr. Ljubomir, 45, Bauer, aus seinem Haus geholt, auf der Straße erschossen. Miloš, 55, noch so ein dummer Bauer, im eigenen Haus ermordet, ins Feuer geworfen, das später sein Haus verschwinden lässt. In diesem oder jenem Ort sind alle Kinder und Frauen aus den Lehmhütten geflohen, als deine Truppen kamen, nur zwei Invalidinnen blieben im Ort; daran erinnerst du dich nicht, das wurde dir nur erzählt, du warst nicht dabei. Man kam in ihre Häuser, sie dachten, ihr Alter sei ein heiliger Schutz, gedankenlos wie sie waren, eine fand man in ihrem Bett, die andere hinter der Tür, man hatte ihnen die Brüste abgeschnitten, die Brüste wurden nicht gefunden. Beim Waschen der Leichen ließ sich feststellen, dass es vor dem Töten zu anderen Formen der Gewalt als nur dem Zustechen gekommen war, die eine 66, die andere 80. Aber das wurde dir nur erzählt, und du musst nicht alles, was man dir erzählt, auch immer glauben.

      Denn wenn du es glauben würdest, da müsstest du dich doch fragen: Hat das alles noch etwas mit Taktik zu tun und wie ist das mit dem Aufrechterhalten der Truppenmoral? In den Bäumen hängt nie nur eine oder einer, immer mehrere. Es schlingt sich um einen Hals, es bricht ein Genick, nur deines nicht, noch nicht. Man hängt den Feind nicht während der Kampfhandlungen, das hätte das Studium der Taktik verboten, es behindert den siegreichen Weiterkampf. Hängen, das passiert mit Gefangenen und Geiseln, passiert in Ruhe und überlegt. So ein Hängen, das bedeutet anbringen, irgendwo festmachen, vielleicht auch einhaken, gut verhaken, manchmal rasch aufziehen und fallenlassen oder auch hochziehen – da schwebt sie dann, sichtbar, nachdem sie zunächst noch gezappelt hat, jetzt schon ganz ruhig, die Scheuche, die zu einem Pendel werden kann und ein- und ausschlägt zum Zeichen eines noch größeren Unheils oder eines noch größeren Sieges. Nein, das geht sich nicht aus, das Drumherum zu einem Hängen, während du in einer Schlacht steckst und kämpfst, das geht sich nur aus, wenn du die Zeit hast dazu, und den Willen.

      Du erinnerst dich, wie du zum ersten Mal hörtest, sie wollten drei alte Bauern hängen. Hin wolltest du plötzlich, verhindern, das muss sich doch verhindern lassen, dachtest du damals noch, wolltest die Befehlshaber fragen: Haben Sie denn dazu die Erlaubnis? Aber dann wurde schon ein Gegenangriff gemeldet, und woher kam diese Erleichterung über den Gegenangriff, der alles vereitelte, zuallererst deinen Verhinderungsversuch vereitelte, von dem du zu fürchten hattest, dass er misslingen könnte, dass du mit deinem Nicht-verhindern-Können von heute an der Zuarbeiter eines Henkers wärst, ein Erfüllungsgehilfe. Was für ein Glück, so denkst du, der Gegenangriff vereitelt ja auch die Hängungen. Ach, wie froh du da warst über die anbrechende Schlacht. Der Gegenangriff war hart, aber er war auch wie ein Trost, ein Kampf, in dem zwei Seiten aufeinander losgehen, nicht bloß du, die deinen, gegen diese da, die nicht bewaffnet … Das