Wenn ich mich nur erinnern könnte. An irgendetwas. Egal was.
Ich lege mich hin, mit dem Kopf auf dem Kleid. Mit einer Hand umklammere ich den Schwertgriff und weine leise.
Doch vom Weinen wird nichts besser, im Gegenteil. Ich wische die Tränen ab, streife das Kleid über und gehe zurück zu meinem Baum. Ich beschließe, Grauhaar zu besuchen.
Zuerst muss ich sichergehen, dass sie allein ist, also beobachte ich das Haus, das an einigen Stellen nicht mehr so aussieht wie vor der kalten Numoa. Es verfällt, hat Grauhaar mal gesagt. Jetzt kann ich gut sehen, was sie damit gemeint hat.
Ich glaube, ich verfalle auch. Nicht mein Körper, der verfällt gar nicht, aber etwas in mir verfällt. Ich weiß nur nicht, was das ist.
Da Grauhaar allein zu sein scheint und auch sonst niemand zu sehen ist, gehe ich ins Haus. Grauhaar finde ich in ihrem Zimmer, wo sie fast immer ist, wenn ich sie sehe. Als sie mich sieht, lächelt sie.
„Kyo! Kyo ist da!“
„Es ist warm“, erwidere ich und setze mich neben ihr. „Hast du Wein?“
„Ich denke, du trinkst keinen Wein mehr“, sagt sie, holt aber trotzdem eine Flasche hervor. Ohne aufzustehen. Sie hat fast alle ihre Sachen so um sich angeordnet, dass sie nur selten aufstehen muss.
„Heute ausnahmsweise. Wie geht es dir?“
Sie trinkt aus der Flasche, bevor sie mir diese reicht. Ich nehme auch einen Schluck.
„Meine Knochen tun weh. Von der Kälte. Doch jetzt wird es bald besser.“
„Geh doch nach draußen. Da ist es viel wärmer!“
„Zu gefährlich.“ Sie mustert mich. „Für dich auch. Die Leute reden über dich, weil du den Soldaten das Fürchten lehrst. Und es wird geredet, dass der König kommt.“
Ich zucke die Achseln. „Was interessiert mich der König?“
„Seine Soldaten sind gefürchtet. Sie sind nicht so ängstlich und schwach wie die Soldaten von Lord Sakumo.“
„Ja. Gut. Ich passe auf.“ Und sie nervt mich. Manchmal. Obwohl sie recht hat. Ich kann gut kämpfen, das weiß ich ja inzwischen. Aber auch andere können bestimmt gut kämpfen. Echte Soldaten auf jeden Fall. Ich beschließe, dass ich wirklich aufpassen werde.
„Wie ist der König?“, erkundige ich mich.
Grauhaar grinst. „Er interessiert dich also doch! Nun, ein großer Mann, von majestätischer Erscheinung. Wie ein König eben. Ein echter König. Ein weiser, gerechter König.“
„Dann wird er mich nicht jagen lassen! Dann wird er wissen, dass ich nichts Böses getan habe! Ich habe mich nur verteidigt!“
„Woher soll er das wissen? Lord Sakumo wird ihm das bestimmt nicht erzählen.“
„Dann tue ich das!“
Grauhaar lacht kurz auf. „Du kommst nicht einmal in seine Nähe! Halt dich einfach versteckt, solange er da ist. In den Wäldern werden dich auch seine Soldaten nicht finden.“
Ich starre sie wütend an.
„Du brauchst nicht so zu schauen, du Wildkatze. Es ist so, wie ich es dir sage. Oder habe ich dich mal angelogen?“
„Nein“, antworte ich missmutig.
„Dann hör auf mich.“
„Hast du den König schon gesehen?“
Grauhaar nickt. „Er war schon einige Male hier. Er reist oft durch sein Land. Ich glaube schon, dass er dir begnadigen würde, wenn er wüsste, was wirklich passiert ist. Aber er wird es nicht erfahren.“
„Ja. Dann gehe ich lieber jagen. Ich komme nachher nochmal.“
Grauhaar nickt erneut. Ich gebe ihr die Flasche zurück und gehe wieder in den Wald. Dabei denke ich darüber nach, was sie erzählt hat. Der König scheint ein guter Mann zu sein, wenn Grauhaar so über ihn spricht, aber ich glaube, er wird von seinen Leuten beschützt und nur solche wie der Lord können direkt mit ihm sprechen. Das macht er irgendwie falsch, der König. Er müsste eher auf Menschen hören, die wissen, was in seinem Land geschieht.
Zum Beispiel auf dich, Wildkatze?
Ja, zum Beispiel. Wieso rede ich eigentlich mit mir selbst?
Kopfschüttelnd verscheuche ich die Gedanken und konzentriere mich auf das Jagen. Und das ist auch gut so. Ich höre Tiere und schleiche mich an sie heran.
Bären. Eine ganze Bärenfamilie. Von ihnen könnte ich lange satt werden. Allerdings könnte es auch passieren, dass sie von mir satt werden. Nur nicht ganz so lange. Ich suche mir lieber leichtere Beute.
Ich muss nicht lange suchen. Den Elch kann ich riechen, bevor ich ihn sehe oder höre. Wenn ich ihn rieche, dann riecht er mich wahrscheinlich nicht. Ich schleiche mich möglichst lautlos heran. Einmal knackt ein Zweig, aber nicht unter meinem Fuß. Da kann ich den Elch schon sehen. Er reißt den Kopf mit dem gewaltigen Geweih in die Höhe und lauscht. Dann bemerkt er, wie ich auch, dass das Geräusch von einem Fuchs verursacht wurde, und grast weiter.
Ich atme leise aus.
Schließlich trennen nur noch ein paar Bäume den Elch und mich voneinander. Ich beobachte das große, starke Tier. Es widerstrebt mir, es zu töten, aber ich habe ziemlich großen Hunger. Und das frische Fleisch würde mir guttun.
Ich treffe eine Entscheidung und springe mit erhobenem Schwert vor. Der Kopf des Elchs geht nach oben, dadurch muss ich die Richtung der Klinge etwas ändern. Doch ich habe damit gerechnet. In der kalten Numoa habe ich Gelegenheit gehabt, das schnelle, schmerzlose Töten von Nahrung zu üben. Auch dieses Mal dauert es nicht lange. Erst fällt der Kopf des Tieres ins Gras, dann bricht der Körper nach ein paar Fluchtschritten zusammen.
Ich zerlege ihn hastig, denn ich weiß, dass auch Bären gerne Elchfleisch essen. Bis auf ein Hinterbein vergrabe ich alles neben einem Baum, dann pinkele ich auf die Stelle. Mit etwas Glück wird das andere Tiere davon abhalten, hier zu graben.
Mit dem Bein in der Hand gehe ich wieder zu Grauhaar, wie ich es ihr versprochen habe. Sie kann das frische Fleisch auch gut gebrauchen, die Spuren der Entbehrung aus der kalten Zeit sind ihr sehr deutlich anzusehen. Das macht mir etwas Sorgen.
Ich bleibe am Waldrand stehen und blicke mich um. Es sieht alles wie vorher aus. Trotzdem habe ich ein komisches Gefühl. Ist Grauhaar vielleicht etwas passiert? Ich mustere kurz das Bein in meiner Hand und denke nach. Ich glaube nicht, dass die Männer des Lords hier sind. Das würden sie nicht wagen, dazu haben sie viel zu viel Angst vor mir. Wieso habe ich dann trotzdem das Gefühl, etwas stimmt nicht?
Ich finde es jedenfalls nicht heraus, wenn ich hier stehenbleibe. Also nähere ich mich dem Haus, in der linken Hand das Bein und in der rechten das Schwert. Dabei beobachte ich aufmerksam meine Umgebung, mit allen Sinnen.
Das rettet mich. Als sich Männer aus Schatten lösen und aus dem Haus kommen, weiß ich, was ich wahrgenommen habe. Darüber, wieso sie sich hierher getraut haben, denke ich lieber später nach.
Zwei Soldaten sind besonders nah. Einem von ihnen schlage ich das Bein auf den Kopf, was ihn zu Boden schickt, den anderen halte ich mit der Klinge auf Abstand. Er springt zurück, die Klinge streift dennoch seine Nase. Aufschreiend presst er die Hand auf die Wunde, während ich mich umdrehe und losrenne.
„Ich will sie lebend!“, ruft jemand mit dunkler, kräftiger Stimme.
Das freut mich, denn das erhöht meine Chance zu entkommen sehr.
Ich erreiche den Waldrand. Gleich bin ich in Sicherheit, denn zumindest mit Pfeilen können sie mich dann nicht mehr treffen. Außerdem weiß ich, dass ich im Wald wesentlich schneller bin als sie. Das konnte ich oft genug ausprobieren.
Dann reißt mir etwas den Boden unter den Füßen weg und mich in die Höhe. Es schnürt mir die Bewegungsfreiheit ab und umgibt mich aus allen