Wozu sich noch in das eisige und tote Jenseits hinauswagen? Es triumphiert die Exophobie, eine abgründige Angst, eine kalte Panik, das nackte Entsetzen vor dem, was äußerlich ist. Diese Angst ergreift auch das Denken und hält es gefangen. Wie lässt sich überhaupt noch eine Alternative denken? Jede Distanznahme, jede Unterbrechung gilt – noch bevor sie als terroristische Tat angeprangert wird – als Ding der Unmöglichkeit. Nur im Inneren lässt sich träumen, unter der Herrschaft der gesättigten Immanenz, in der die Träume nicht selten in Albträume umschlagen. »Es gibt kein Außen mehr«, das ist die bittere Feststellung, die das radikalste Denken der letzten Jahre durchzieht.5 Auf diese Weise ist der hyperrealistische Refrain »There is no alternative!«, jene höhnische und traurige Summa des gegenwärtigen Zeitalters, schließlich zu einer schonungslosen Prophezeiung geworden, die sich nur unaufhörlich bewahrheiten kann.
Es ist kein Geheimnis mehr, dass die Reden vom »Ende der Welt« ernst zu nehmen sind.6 Diese werden vor allem von den empirischen Wissenschaften unterfüttert: von Klimatologie, Geophysik, Ozeanografie und Ökologie. Die Menschheit scheint geradewegs und unmittelbar auf die Katastrophe zuzusteuern. Die nahe Zukunft – unvorhersehbar, weil vollkommen anders – wird den Szenarien der Science-Fiction oder messianischen Visionen überantwortet. Der prometheische Schrei droht in einem apokalyptischen Röcheln zu ersticken. Zumindest eines ist klar: Die Welt des Spätkapitalismus ist die des planetarischen ökologischen Kollapses. Die Verschmelzung von Technoökonomie und Biosphäre vollzieht sich vor den Augen aller.7 Das Erdzeitalter, in dem die Menschen beinahe machtlos die verheerenden und todbringenden Ergebnisse jener asymmetrischen Verschmelzung betrachten, mit der die Natur bis hin zu ihrem Verschwinden erodiert wurde, ist heute unter dem Namen Anthropozän bekannt. Doch die Heftigkeit und Gewalt des menschlichen Eingriffs wäre ohne die unerbittliche und glühende Souveränität des Kapitals nicht möglich gewesen. Und dennoch scheint es der zeitgenössischen Vorstellung leichter zu fallen, sich das Ende der Welt auszumalen, als das Ende des Kapitalismus zu denken. Darin zeigt sich die ungeheuer große Kluft zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Ohnmacht. Zu diesem Zeitpunkt besetzt der Kapitalismus bereits den gesamten Horizont des Denkbaren. Dies wurde möglich, indem er noch jeden Herd eines Widerstands der Imagination aufzehrte sowie jedwedes ihm Äußerliche, das vor oder nach seiner Geschichte liegen mag, auslöschte: vor ihm nur düster Archaisches, nach ihm nichts anderes als die Finsternis der Apokalypse.
Für eine Menschheit, die in der gesättigten Immanenz eingeschlossen ist, in jenem fensterlosen Globus des fortgeschrittenen Kapitalismus, auf dem für Menschliches kaum noch Raum ist, bleibt allein der Transhumanismus vorstellbar, der letzte technognostische Traum von der Unsterblichkeit – ob dieser sich nun durch kryogene Hibernation oder durch Übertragung der Identität in eine Software verwirklicht –, der ersehnte Traum einer Spezies, die ebenso unvermittelt wieder verschwinden könnte. Dann lebe wenigstens das Posthumane!
Im Inneren ist alles möglich – außen hingegen: rein gar nichts. Man hätte sich also zu fragen, was hier »möglich« heißt und was »unmöglich«, wenn es im zukunftsorientierten wissenschaftlich-technologischen Kontext keinerlei Grenzen gibt, während im politischen Feld jegliche Perspektive eines möglichen Wandels a priori vom harten »Nein« des Marktes versperrt wird.8 Zwar kann man unsterblich werden, es gibt jedoch keinen Ausweg aus dem Kapitalismus.
Die Welt der gesättigten Immanenz ist die des globalen kapitalistischen Regimes, der klaustrophobische Raum, in dem man zwischen dem Nicht-Ereignis des liberaldemokratischen Dahinfließens und dem unmittelbar bevorstehenden planetarischen Kollaps hin- und herschwankt. Der Widerstand dagegen teilt sich in zwei Lager: in diejenigen, die auf eine entfesselte Akzeleration setzen, welche dann in die Selbstzerstörung des Kapitalismus münden soll,9 und diejenigen, die darauf abstellen, die Fahrt der Lokomotive noch durch das Ziehen der Notbremse zu stoppen – nach der Apokalypse das Gottesreich.
Der kapitalistische Realismus bekräftigt indes die Immanenz und festigt die Abschließung.10 Nur eine Logik des Unmöglichen könnte diese verschieben und verlagern. Der Zukunft zuvorkommen, um sie zu umgehen: Das Regime der gesättigten Immanenz stellt sich als geschlossene Welt einer Präventivpolizei dar, als zeitliches Gefängnis, in dem der Weitblick zu einer Hellsichtigkeit verkommt, die jede Veränderung zum Neuen zu exorzieren trachtet. Diese Welt hat ihren Schatten bereits verloren. Sie ist dem Imperativ des jeweiligen Tages unterworfen, verurteilt zur erschöpften Trägheit permanenten Alarmiertseins, zum unermüdlichen Halbschlaf im nie erlöschenden Licht, zu einer taghellen Virtualität, die keine Nacht mehr kennt.
Heraklit, das Wachen und der ursprüngliche Kommunismus
Von ihrem Beginn an bildete das Wachen ein bevorzugtes Thema der Philosophie. Das ging so weit, dass es zu ihrer symbolischen Repräsentation werden konnte, zur ihr vorausgehenden, anschaulichen Metapher, noch bevor die Philosophie überhaupt einen Namen angenommen hatte. Wundersames Aufgehen des inneren Lichts, welches das Wiederauftauchen aus der Nacht anzeigt, Kraft der Mahnung und des Rückrufs, das Staunen des erwachenden Lebens, Rückkehr zu sich: Mehr als alles andere ist das die Philosophie.
Die Helle des Tages vom Mythos gelöst und zu einer metaphysischen Kategorie erhoben zu haben, war das Werk Heraklits, des »Dunklen«, wie er aufgrund seines enigmatischen und orakelhaften Stils genannt wurde. Damit beginnt das Abenteuer des Denkens, das vom Licht des logos geleitet die Welt zur Sprache bringt, die so zum Kosmos wird und sich mit der ununterbrochenen Überschreitung ihres beschränkten und niederen Radius in eine immer weitere, höhere und gemeinschaftlichere Sphäre hinein entfaltet.
Von Heraklits Leben ist nur sehr wenig bekannt. Die antiken Biografen schreiben ihm königliche Abstammung zu. Diogenes Laertius sagt, dass er »stolzen Sinnes, wie kaum ein anderer«11 gewesen sei. Seine fast schon abschätzige Haltung war einem grundlegenden Konflikt mit den Mitbürgern geschuldet, denen er zum Vorwurf machte, seinen Freund Hermodoros nach der gescheiterten demokratischen Revolution ins Exil gezwungen zu haben. Ephesos, die an der Grenze zwischen der kleinasiatischen Küste und dem europäischen Mittelmeer gelegene ionische Stadt, war gewiss noch nicht Athen. Doch fehlte es auch hier nicht an Spannungen. Gekränkt entfremdete sich Heraklit dem politischen Leben und wies das an ihn gerichtete Ansuchen zurück, der polis Gesetze zu geben, die ihm inzwischen von einer schlechten Verfassung regiert zu werden schien. Er zog sich in den Artemistempel zurück, wo er der Legende nach sein in drei Abschnitte unterteiltes großes Buch niederschrieb: den ersten über das Ganze, dann einen politischen Teil und schließlich einen theologischen. Dem Werk wurde später ein künftig oftmals gebrauchter Titel verpasst: Peri physeôs – ganz so, als hätte Heraklit ein Traktat über die physis verfasst, über die als Prinzip und Substanz von allem verstandene Natur. Aristoteles leistete seinen Beitrag, diese beschränkende und irreführende Deutung weiter zu festigen. Gleichwohl existiert auch eine andere antike Tradition, verkörpert durch den Stoiker Diodot, der zufolge das Buch Heraklits abgesehen von einigen Beispielen nichts mit der Natur zu tun hat, sondern ausschließlich politische Themen behandelt: Peri politeias.
Im Übrigen ist vor einem numinos bleibenden Hintergrund die politisch-tragische Inspiration des Denkens Heraklits in den mehr als 120 von seinem Werk erhaltenen Fragmenten unschwer auszumachen. Es spricht darin nicht so sehr der Erforscher des Kosmos als vielmehr der strenge Wächter der Stadt, der Interpret des polemos, jenes Konfliktes und Krieges, der »aller Dinge Vater, aller Dinge König« ist (B 53). Der Streit der polis wird auf die gesamte Wirklichkeit projiziert, um so von Grund auf das sie regierende Gesetz zu erforschen und miteinander zu verbinden, was in seiner Einheit zunächst verstreut und vielfältig erscheint, damit schließlich die palintropos harmoniê, die »gegenstrebige Vereinigung« der Gegensätze (B 51), erfasst werde. Die Stadt bildet damit das hermeneutische Paradigma der Welt.
In jeder