»Ich wollte zum Abendessen gehen.«
»Darf ich mich anschließen?«
»Was für eine Frage!«
»Gut, nachdem das geklärt ist, werde ich dich ganz groß ausführen.« Wieder sah Raoul sie an. »Weißt du noch, unsere Kahnfahrten auf der Seine? Damals lag uns die ganze Welt zu Füßen. Ich werde diesen Sommer niemals vergessen.«
»Ich auch nicht.« Jeannette sah sich wieder mit Raoul Arm in Arm den Montmartre hinuntergehen, auf der höchsten Plattform des Eiffelturms stehen und auf der Champs-Élysées Kaffee trinken. Wie jung und unbeschwert waren sie damals gewesen!
»Also, ich bin bereit«, sagte der Mann. »Stürzen wir uns in das Vergnügen.«
»Ich möchte nur vorher noch zu Hause anrufen«, erwiderte Jeannette. »Es macht dir doch nichts aus, etwas zu warten? Meine Kinder erwarten meinen Anruf. Bevor sie nicht mit mir gesprochen haben, gehen sie nicht schlafen.«
»Du hast Kinder?«
»Ja, zwei Mädchen. Danielle ist fünf, fast sechs, Isabelle dreieinhalb.« Sie berührte seinen Arm. »Ich bin in etwa zehn Minuten wieder da.«
»In Ordnung«, erwiderte Raoul, alles andere als begeistert.
Es dauerte nicht lange, bis Jeannette wieder zurückkam. Suchend blickte sie sich im Foyer um, dann entdeckte sie den jungen Mann in einem Sessel zwischen zwei Zimmerpalmen.
»Na, den Kinderchen eine gute Nacht gewünscht?« erkundigte er sich, als sie vor ihm stand, und stand auf.
»Es hat niemand den Hörer abgenommen«, sagte sie nachdenklich. »Frau Stein wollte mit ihnen lediglich nach Wildmoos fahren, das hat sie mir jedenfalls gestern abend erzählt, als ich mit ihr telefonierte. Ich begreife das nicht.«
»Sie werden noch nicht aus Wildmoos zurück sein«, meinte Raoul. »An deiner Stelle würde ich mir keine Sorgen machen. Wer ist diese Madame Stein?«
»Meine Haushälterin. Sie nimmt sich immer der Kinder an, wenn ich auf Reisen bin.«
»Und bist du das oft?«
»Ab und zu. Ich arbeite wieder in meinem alten Beruf als Modezeichnerin.«
»Oh, wunderbar!« Raoul schlug ihr leicht auf die Schulter. »Bravo, Jeannette. Ich fand es nämlich sehr schade, als du damals deinen Beruf aufgegeben hast. Hat dein Mann also endlich Vernunft angenommen.«
»Mein Mann?« Jeannette schüttelte den Kopf. »Sprechen wir besser nicht von Tobias.«
»Das klingt, als sei mit euch nicht alles in Ordnung.« Nachdenklich blickte ihr Raoul ins Gesicht. »Daß wir uns hier trafen, ist eine Schicksalsfügung, nicht wahr, ma chérie? Also sollten wir auch aufrichtig zueinander sein und keine Geheimnisse voreinander haben.«
»Wollten wir nicht essen gehen?«
»Gut, gehen wir, aber beim Dinner mußt du mir alles erzählen, Jeannette.«
»Was bleibt mir anderes übrig, sonst läßt du mich noch verhungern«, meinte die junge Frau. »Mit Danielle und Isabelle wird schon alles in Ordnung sein. Auf Frau Stein konnte ich mich bisher immer verlassen.«
»Ich werde dafür sorgen, daß du es nicht bereust, meine Einladung angenommen zu haben«, versprach Raoul. Er legte den Arm um Jeannettes schmale Taille und führte sie auf die schwach belebte Straße hinaus.
*
»Die beiden schlafen noch immer«, meldete Schwester Regine. »Nachdem sie jetzt das Abendessen versäumt haben, werden sie morgen früh entsetzlich hungrig sein. Ob ich ihnen noch ein paar Plätzchen auf den Nachttisch stellen soll, falls sie nachts aufwachen?«
»Eine gute Idee«, lobte Denise. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Ihr Mann hatte versprochen, sie gegen acht abzuholen, jetzt war es bereits halb neun.
»Trinken Sie noch eine Tasse Kaffee mit mir, Frau von Schoenecker?« fragte Else Rennert, die Heimleiterin.
»Ja, da es aussieht, als würde sich mein Mann verspäten.« Die Verwalterin wandte sich dem Empfangszimmer zu.
»Mutti, was sind denn das für Mädchen?« Henrik stürmte durch das offene Portal in die Halle. »Haben sie dir schon erzählt, woher sie kommen? Herr Henrich sagt, sie sprechen französisch. Kann ich mich überhaupt mit ihnen unterhalten?«
»Eines nach dem anderen, mein Sohn.« Denise fing Henrik mit beiden Armen auf und drückte ihn an sich. Mit einer hektischen Bewegung machte er sich frei. Auch wenn er ab und zu ganz gern mit seiner Mutter schmuste, vor anderen Leuten mochte er so etwas nicht.
»Tut mir leid, ich habe mich etwas verspätet.« Alexander von Schoenecker trat ebenfalls in die Halle. »Wie man sieht, ist kein Tag in Sophienlust wie jeder andere. Immer gibt es einige Überraschungen.«
»Wem sagen Sie das, Herr von Schoenecker«, meinte Frau Rennert. »Die beiden haben für allerlei Aufregungen gesorgt. Jetzt schlafen sie zum Glück.«
»Darf ich sie sehen?«
»Aber Henrik, Danielle und Isabelle sind doch keine jungen Hündchen, die man jederzeit vorführen kann.« Denise lachte. Sie fuhr ihrem neunjährigen Sohn durch den braunen, etwas wirren Haarschopf. »Wir werden jetzt nach Hause fahren. Für dich wird es höchste Zeit. Immerhin hast du morgen Schule.«
»Ach!« Henrik machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Klingt, als wärst du Klassenprimus«, meinte sein Vater.
»Streber mag niemand«, kam es spontan von Henrik.
»Und da du viele Freunde hast, läßt das weit blicken«, sagte Frau Rennert schmunzelnd. »Morgen nach der Schule wirst du Danielle und Isabelle kennenlernen«, tröstete sie ihn.
»Sind sie dann ganz bestimmt noch da?« Henrik sah die mütterliche Frau skeptisch an. »Ehrenwort?«
»Das kann ich dir leider nicht darauf geben, aber wie es bis jetzt aussieht, sind sie auch noch morgen bei uns.«
Else Rennert begleitete die von Schoeneckers zu deren Wagen und verabschiedete sich dort von ihnen.
Henrik kletterte in den Fond und zog die Beine auf den Sitz. Verstohlen gähnte er hinter der vorgehaltenen Hand. Er wurde erst wieder munter, als sie das Tor des Sophienluster Parks passierten.
»Gibt es Neuigkeiten, Denise?« fragte Alexander, während er das Tempo etwas beschleunigte.
»Frau Stein ist nach wie vor bewußtlos. Vor einer halben Stunde habe ich noch einmal im Krankenhaus angerufen. Ihr Zustand ist besorgniserregend.«
»Und die Eltern der Kinder?«
»In Danielles Jacke war das Etikett eines Maibacher Kindergeschäftes. Das gab mir den Hinweis auf Maibach. Eine Jeannette Lemmon lebt tatsächlich mit zwei Kindern und ihrer Haushälterin in Maibach, soviel habe ich inzwischen herausbekommen. Ich habe telefonisch mit einer ihrer Nachbarinnen gesprochen. Allem Anschein nach ist Frau Lemmon seit einigen Tagen verreist. Die Nachbarin wußte allerdings weder wohin, noch konnte sie mir ihren Arbeitgeber nennen.«
»Dürfte nicht schwer sein, das auch noch herauszufinden«, meinte Alexander.
»Und wo ist der Vater der Kinder?« wollte Henrik wissen. Er nahm seine Beine vom Sitz runter und beugte sich etwas vor. »Danielle und Isabelle haben doch ganz bestimmt auch einen Vati.«
»Anzunehmen«, bemerkte sein Vater.
»Vielleicht ist er tot«, überlegte der Neunjährige laut.
»Frau Lemmon könnte auch geschieden sein«, erwiderte seine Mutter. »Wir wollen nicht immer gleich das Schlimmste annehmen.«
»Es ist nicht gut, wenn