»Ich will Eis, Frau Stein«, quengelte die kleine Danielle Lemmon.
»Das heißt nicht, ich will, sondern ich möchte, bitte«, verbesserte sie die Haushälterin Edith Stein automatisch. Sie blieb mit den beiden Kindern vor einem Schaufenster stehen, um etwas zu verschnaufen. Schon am Morgen hatte sie sich nicht wohl gefühlt, obwohl sie die ihr vom Arzt verordneten Tabletten gleich nach dem Frühstück eingenommen hatte.
»Ich will auch Eis«, meldete sich Danielles dreijähriges Schwesterchen Isabelle. Beide Mädchen hatten weißblonde Pagenköpfe und blaue Augen.
»Du hast doch gehört, es heißt, ich möchte, bitte«, erklärte Danielle. Mahnend blickte sie ihre Schwester an, dann wanderte ihr Blick an der Frau hoch. »Wann gehen wir denn nun Eis kaufen?«
»Nachher, Kinder, nachher«, seufzte Edith Stein auf. Es war dumm gewesen, ausgerechnet an diesem Tag einen Ausflug nach Wildmoos zu machen, aber sie mußte die Kinder ja irgendwie beschäftigen. Seit Frau Lemmon in Berlin war, hatte sie es ziemlich schwer mit ihnen gehabt. Instinktiv fürchteten die Kinder, nun auch noch ihre Mutter zu verlieren. Zwar hatte sie in den letzten Tagen ab und zu angerufen, doch was bedeutete das schon?
»Wann nachher?« Danielle reckte ihr Stubsnäschen jetzt noch etwas höher.
»Ich muß mich erst etwas hinsetzen, Kinder«, erwiderte Edith Stein erschöpft. Sie spürte einen unbestimmten Schmerz in ihrer Brust. »Dort drüben steht eine Bank. Wir gehen jetzt über die Straße.« Sie griff nach Isabelles Händchen.
»Da gibt’s Eis!« Danielle wies zu einem etwa fünfzig Meter entfernten Laden. Eine weiße Fahne mit blauen Buchstaben hing vor dem Schaufenster.
»Danielle, jetzt sei brav.« Edith Stein griff nun auch nach dem Händchen der Fünfjährigen.
»Frau Stein, bitte.«
»Nein, Danielle, jetzt komm!« Die Haushälterin merkte, wie alles vor ihren Augen zu verschwimmen begann. Mit letzter Kraft zog sie die Kinder auf die Straße.
»Wir können das Eis doch auch jetzt kaufen und nachher zu der Bank gehen«, maulte Danielle. »Wir…«
Sie kam nicht mehr dazu, ihren Satz zu beenden. Frau Stein ließ die Kinder los und sank lautlos in sich zusammen. Hart schlug sie auf der Fahrbahn auf. Ein Wagen, der von der rechten Seite kam, bremste mit blockierenden Reifen.
»Frau Stein!« schrie Danielle entsetzt auf. Sie sah, wie der Fahrer des Wagens ausstieg. Auf der anderen Straßenseite tauchten Leute auf. »Ich wollte nicht ungezogen sein, Frau Stein. Ich bin’s auch nie wieder.«
»Frau Stein, was ist denn?« Isabelle wollte sich neben die Haushälterin knien, doch Danielle griff nach der Hand ihrer jüngeren Schwester und zerrte sie dann weg. »Au!« schrie das kleine Mädchen ganz empört. »Ich sag’s Maman, daß du mir immer weh tust.«
»Wir müssen weglaufen, schnell, Isabelle!« Danielle zog die Kleinere auf den Bürgersteig zurück. Bevor noch jemand die Kinder halten konnte, waren sie schon hinter dem nächsten Haus verschwunden.
»Was ist den passiert?« Der Besitzer des Lebensmittelgeschäftes bahnte sich einen Weg durch die Passanten, die Frau Stein umstanden. »Hat jemand schon einen Arzt gerufen?«
»Ich rufe sofort an.« Eine Frau, die sich neben Edith Stein gekauert hatte, erhob sich. »Sie ist bewußtlos«, sagte sie.
Polizeimeister Kirsch bog gerade um die Ecke. Er stutzte, als er den Menschenauflauf auf der Wildmooser Hauptstraße sah. Schweigend machten ihm die Umstehenden Platz.
»Sie ist ganz plötzlich zusammengebrochen«, erklärte der Fahrer des Wagens, der Zeuge des Vorfalls gewesen war. »Zwei kleine Mädchen waren noch bei ihr. Sie sind weggelaufen. Vielleicht haben sie einen Schock.«
»Kennt jemand die Frau?« fragte Herr Kirsch. Allgemeines Kopfschütteln war die Antwort. »Wie sahen die Kinder aus?«
Während der Fahrer seine Angaben machte, traf Frau Dr. Anja Frey mit ihrem Wagen ein. Sie betrieb zusammen mit ihrem Mann eine Arztpraxis in Wildmoos. Ohne sich um die Passanten zu kümmern, kniete sie sich neben Edith Stein auf die Fahrbahn. Schon nach kurzer Untersuchung hob sie den Kopf.
»Herr Kirsch, rufen Sie bitte sofort einen Notarztwagen. Sagen Sie, daß Verdacht auf Herzinfarkt besteht. Es eilt.«
Der Polizeimeister klappte sein Notizbuch zu und spurtete davon. In diesem Moment dachte natürlich niemand an die Kinder. Die Stimme der Ärztin hatte so ernst und dringend geklungen, daß jede Minute kostbar war.
Frau Stein wurde in das nächste Haus transportiert und vorsichtig auf ein Bett gelegt. Während sich Anja Frey um sie kümmerte, blickte sie alle paar Minuten auf die Uhr. Sie fühlte, daß das Leben ihrer Patientin nur noch an einem seidenen Faden hing.
*
»Ich kann nicht mehr, Danielle«, jammerte Isabelle. Sie blieb stehen. »Ich geh nicht mehr weiter.« Demonstrativ ließ sie sich auf ihren Hosenboden fallen.
»Nur noch ein kleines Stückchen, Isabelle.«
»Warum laufen wir weg?«
»Das hab’ ich dir doch schon gesagt«, erwiderte Danielle ungehalten. »Wir waren ungezogen, und deshalb ist Frau Stein hingefallen und hat sich nicht mehr gerührt. Wir werden bestimmt bestraft.« Danielle starrte auf die Spitzen ihrer braunen Lederschuhe. »Ich wollte nicht ungezogen sein. Ich mag doch Frau Stein. Ich hab’ sie fast genauso lieb wie Papa und Maman.«
»Ich hab’ Frau Stein auch lieb«, erklärte Isabelle.
»Vielleicht ist sie tot«, flüsterte Danielle atemlos vor Angst. »Wenn sie tot ist, sind wir schuld.«
»Wie das Vögelchen?« fragte Isabelle entsetzt. Als Danielle nickte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie hatten vor einigen Tagen ihren Wellensittich begraben müssen.
»Komm, wir rennen weiter; ganz weit fort.« Danielle nahm wieder Isabelles Hand. »Wir verstecken uns, dann finden uns die Leute nicht.«
Die beiden Mädchen verließen Wildmoos in Richtung Schoeneich. Schon bald hatten sie das letzte Haus hinter sich gelassen. Sie rannten jetzt nicht mehr, sondern ließen sich Zeit. Isabelle ging immer langsamer. Sie stolperte bald nur noch an der Hand ihrer Schwester dahin. Jeder Stein schien ihr ein Bein stellen zu wollen.
»Wo verstecken wir uns denn?« fragte sie weinerlich. »Ich bin so müde, und ich habe Hunger und Durst.«
»Ich auch«, gab Danielle zu. Sie blickte geradeaus. Einige Meter vor ihnen begann der Wald. »Da verstecken wir uns!« Sie deutete mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Bäume.
»Da ist’s aber so dunkel.« Isabelle blieb stehen.
»Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin doch bei dir«, versicherte Danielle, aber ihre Stimme zitterte merkwürdig.
»Holt uns dann Maman?«
»Ja«, bestätigte Danielle, war sich dessen aber nicht sicher. Woher sollte ihre Maman wissen, wo sie waren? Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Wir müssen nur auf sie warten«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu.
Isabelle gab sich damit zufrieden. Sie umfaßte Danielles Hand etwas fester. Erschöpft marschierte sie neben ihr her auf den Wald zu.
Knapp eine Viertelstunde später waren sie im Wald verschwunden. Ängstlich drängten sich die beiden kleinen Mädchen aneinander. Danielle begann laut ein französisches Kinderlied zu singen, daß ihnen ihre Mutter beigebracht hatte. Als Isabelle nicht mit einstimmte, hörte sie wieder auf.
»Du mußt auch singen, Isabelle, dann kann uns niemand was tun«, sagte sie. »Wenn man Angst hat, muß man immer singen.«
Zögernd bewegten sich daraufhin Isabelles Lippen. »Sur le pont d’Avignon«, klang es durch den Wald.
Das Gebiet, in dem sich die beiden Kinder befanden, gehörte zum Gut Schoeneich. Einige Gutsarbeiter waren gerade dabei, Bäume zu markieren.
»Was ist denn das?« fragte Klaus Henrich. Er horchte in die Richtung, aus der der Gesang kam. »Hört sich nach Kindern an. Ob Henrik und seine