Sergej Gößner
lauwarm
FELIX BLOCH ERBEN
Verlag für Bühne, Film und Funk
Inhaltsverzeichnis
„Instead of hate, celebrate.“
Prince
Furchtbar. Ja, na ja, nicht direkt furchtbar. Aber schon irgendwie schlimm. Oder unangenehm. Ich weiß auch nicht. Ich weiß nicht, wie man das am besten – Ja, unangenehm. Schon unangenehm. So würd ich das am ehesten – Und total toll auch und wunderschön, gleichzeitig. Irgendwas dazwischen ist das. Zwischen schlimm und geil. Ein Dilemma. Ein Dilemma ist das. Ich darf erzählen, von mir was erzählen, und deshalb steh ich hier, und ihr sitzt da, damit ich euch etwas erzählen kann, von mir. Und deshalb steh ich hier und schäme mich und finde es aber auch irgendwie ganz toll, dass ihr alle da seid, um euch etwas anzuhören, das ich euch erzähle. Aber es ist mir auch irgendwie wahnsinnig peinlich und unangenehm, und trotzdem finde ich es auch, währenddessen, richtig geil. Und, dass ich es richtig geil finde, find ich wiederum auch richtig peinlich. Richtig peinlich, dass ich mich hier so abfeiere. – Das passiert alles gleichzeitig, in mir drin, in meinem Kopf. Und dann erzähl ich ja noch was, parallel. Und am Ende macht ihr dann hoffentlich alle so Oh! und Ah! – Am besten schon dazwischen. Also, währenddessen, zwischen jetzt und später. Immer mal zwischendurch Oh! und Ah! Das wär – das wär schon schön. Ja, schwierig. Mir bleibt nur zu beschreiben. Mehr hab ich nicht, oder? Selbst wenn ich jetzt jeden von euch einzeln hier nach vorne bitte, und jeder soll erzählen, wie es ihm oder ihr hiermit geht, also mit dieser Situation hier geht, was eh schon mal an sich schwer genug ist, wird niemand diese Situation hier vorne wie ich empfinden. Alle werden anders fühlen. Manche Innenleben würden sich natürlich ähneln, aber am Ende bleibt uns nur, zuzuhören und zu versuchen, nachzuempfinden wie es, beispielsweise, dir hier vorne erging. Aber wir werden nie erfahren, wie genau es dir erging. Uns bleibt nur unsere Vorstellung, unser Nachempfinden der Beschreibung deiner Gefühle und Gedanken. Uns bleibt nur, dir zuzuhören und dir zu glauben.
Ja, schwierig.
Ein Dilemma ist das. Und ein Zauber. Irgendwas dazwischen. – Dazwischen kann so viel sein. Aber oft ist dazwischen nichts. Oder man tut so, als wäre es nichts. Als gäbe es beispielsweise nur schwarz und weiß. Dabei liegt gerade dazwischen, also zwischen schwarz und weiß, ewig viel Vergangenes, Bedrohliches und Schönes. Festgehalten, gebannt in unendlich vielen Graustufen. Auf alten Fotos. In Museen, an Mahntafeln, in Schubladen. Dazwischen kann so viel sein. Zwischen Venus und Mars passt unsere ganze Welt, plus Erdtrabant. Und wenn zwei sich streiten und ich dazwischenstehe, dann bin ich vielleicht einfach der Dritte und nicht nur dazwischen. Vielleicht ganz unvoreingenommen oder mit einer klaren, eigenen, einer dritten Position. Ich kann mich doch aus dem Dazwischensein befreien und zu etwas werden. Ich kann versuchen, dazwischen zu benennen. Irgendwann ist irgendwer hingegangen und hat gesagt: Das da. Hier, das, das da zwischen Grün und Blau, das nämlich, das ist Türkis. Und alle dann Oh! und Ah! und Ja? – Ja. – Aha, interessant. Und das? – Das? – Ja, das. – Das da? – Ja, das da. – Äh, das ist … ähm … Petrol. – Ach, und das dazwischen? – Hm? – Das dazwischen. – Wo zwischen? – Da-zwischen. Zwischen Türkis und Petrol. – Ach das. – Ja, das. – Ja, das ist … Baliblau. – Ah! Und dann wurde aus dazwischen Türkis und Petrol und Baliblau, Eisblau, Cyanblau und Aquamarin und immer so weiter. Alles war irgendwas dazwischen, bis es dann zu etwas wurde. Zu etwas Eigenem. Und dann war es in der Welt.
22 Uhr 21. Wolken, Regen. Donnern in der Ferne. Ein Sonntag im September. Ein Tag, wie es ihn sicher schon hunderttausendfach gab. Millionenfach seit es Tage gibt, seit diese Kugel unbeirrt ihre Runden um diese andere, leuchtende Kugel dreht. Doch dieser Tag, dieser Sonntag im September, ist ein besonderer, für mich, denn während es draußen langsam zu stürmen beginnt, während es regnet und immer dunkler wird, erblicke ich drinnen das Licht der Welt. An einem Sonntag im September um 22 Uhr 21. Ich bin also ein Sonntagskind. Ich bin 56 cm groß, ich bin 3800 g schwer, ich bin das bereits zweite Kind meiner erst 23 Jahre alten Mutter.
Ich bin eine Zangengeburt. Ich bin Blutgruppe A. Ich bin rotbläulich angelaufen, meine Augen zugeschwollen, mein Haar schwarz und nass. Das bin ich. Ich bin da, ich bin Mensch. Was man mir erst später schrittweise erklären, beibringen wird, Menschsein. Oder was man darunter versteht, in der Gegenwart. Also jetzt, momentan.
Ich wurde also geboren. An einem Sonntag im September und mit Hilfe einer Zange. Und war erst mal. Ich war da, auf der Welt. Was ich zuvor auch schon einige Zeit war, nur eben im Dunkeln. Dazwischen, irgendwo zwischen nichts und Existenz, umhüllt von meiner Mutter. Und weit weg, über mir, schlug dieser riesige Hohlmuskel, ihr Herz. Es hing über mir, war die Sonne meiner ersten Monate. Gab den Takt meines frühen Lebens vor. Es schlägt, es rauscht, pulsiert, um mich herum arbeiten ihre Organe, und es schlägt, rauscht, pulsiert, gluckert und zischt. Ein ausgeklügeltes und bewährtes System. Atmen, essen, verdauen, scheißen.
Und plötzlich bebt alles und bebt und bebt und drückt und pocht, und dann beruhigt es sich wieder und hört auf. Aber irgendetwas passiert. Irgendetwas hat sich verändert. Irgendetwas – Dann bebt es wieder und drückt und knirscht und tut weh und drückt noch mehr – meine Knochen – meine Knochen – alles drückt – ich werde erdrückt – mein Kopf, meine Schultern – ich werde erdrückt! – mein Brustkorb – ICH WERDE ERDRÜCKT! – Und dann hat alles ein Ende, und alles beginnt. Ich friere, zum ersten Mal. Es ist kalt – so kalt! – und es ist so hell. Ich bin geblendet. Etwa zehn Leuchtstoffröhren NARVA LT / 18 Watt. Das Licht der Welt. Zum ersten Mal schießt Luft in meine Lungenflügel – es sticht – fuck – und ich schreie. Weil ich‘s kann, und will. Weil ich nicht anders kann, und schon nicht mehr will. Während es draußen zu hageln beginnt, während ein einsamer Blitz sich seinen Weg über den mittlerweile fast schwarzen Abendhimmel bahnt, singt drinnen ein 56 cm großes und 3800 g schweres Sonntagskind, ein Mensch, sein erstes und nicht letztes Klagelied.
Ich kann mich an all das nicht erinnern. Natürlich nicht. Wer möchte sich daran schon erinnern? Könnte so gewesen sein. Wahrscheinlich war es so, oder so ähnlich. Sehr wahrscheinlich war es noch viel schlimmer. Stellt euch vor, man könnte sich daran erinnern. Stellt euch vor: Das Leben begänne mit einem Trauma. Aber so beginnt es mit der Verdrängung eines Traumas, was natürlich viel mehr Sinn ergibt. – Und ja, hier könnte ich wohl schon wieder aufhören. Weil ich ab dann ja da war. Und bin, was ich bin, und wäre alles andere kein Thema, müsste ich ab hier nicht mehr weitersprechen, es jetzt nicht weiter thematisieren, denn: Der Grund warum ich so anders bin, liegt von Natur aus in mir drin. Oder? Keine Ahnung.
Ich war also da. Und vor mir meine Eltern, und die hatten Sex. Und deren Eltern hatten Sex. Und deren Eltern hatten Sex, und deren Eltern hatten auch welchen, also Sex. Und immer so weiter. Jede Menge Menschen, die Sex hatten. Manche Eltern vielleicht nur einmal, miteinander, oder generell. Andere … öfter. Das ist eine Wahrheit, mit der man leben muss. Eltern hatten Sex. Meistens. Es gibt künstliche Befruchtung, Samenspende, aber die allermeisten Eltern hatten Sex. Also meistens zumindest einmal. Manche Eltern haben noch immer Sex, andere sind geschieden. Manche Eltern sind geschieden und haben trotzdem noch Sex, miteinander. Andere sind verheiratet und haben keinen Sex, miteinander. Manche Eltern waren nie verheiratet oder überhaupt nie ein Paar und hatten und haben Sex. Manche Eltern waren ein One-Night-Stand. Eltern – hatten – Sex! Das haben wir alle gemeinsam. Also abgesehen davon, dass wir alle geboren wurden und Menschen sind, hatten unsere Eltern Sex. Nicht miteinander, unsere Eltern – sehr wahrscheinlich nicht miteinander – unsere Eltern hatten getrennt Sex. Das haben wir doch schon mal alle gemeinsam.