Radio Rhapsodie. Anja Hilling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Hilling
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961194858
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home to where the time stands still

      no one leaves and no one will.”

      10:00 Uhr morgens, Freunde, und ich schwör euch, die Uhr wird heut schneller ticken als die Tropfen, die ihr der Erde schenken werdet im Angesicht einer Buddelei, die gestern Nacht hier im Säulengang stattgefunden hat. Unter der Eingangszypresse, 90 Zentimeter tief vergraben, konnte eine sogar für hiesige Verhältnisse beachtliche Medikamentenkammer sichergestellt werden, verschiedene Neuroleptika, Fluanxol, Promethazin, Proneurin, Protactyl, dieses und jenes Antidepressivum, Fluesco, Pronervon und das beliebte Psychopax, von dem ich persönlich abraten würde, Stichwort Ataxie, Glottisspasmen, Libidoverlust, Spaß beiseite, ich verwette mein letztes Aspirin drauf, dass jeder von euch gerne der glückliche Buddler gewesen wäre, der Schatz fiel aber einem jungen Assistenzarzt in die Hände. Die ca. 100-jährige Ava G. bekannte sich als Verwalterin dieses Fundus, unser bitter Erspartes, unsere letzte Sicherheit, unser Notgroschen. Jeder Inseldepp kann sich an Avas Versprechen erinnern.

      „Nach endloser Disziplin und Sparsamkeit

      Haben wir uns ein festliches Ende verdient.

      Erst rauschend und dann sanft.”

      Das Ende kommt, soviel ist sicher, in genau vier Stunden und acht Minuten, es wird bitterer sein als die Acetyl-Reste in deinem Zahnfleisch und schneller kommen, als du schlucken kannst. Die Zeit macht das, was du immer von ihr wolltest, sie rennt dir davon. Der Assistenzarzt ist zusammen mit dem gesamten Ärzteteam auf einen

      „Wochenendtrip”

      an die afrikanische Küste gereist. Wir schicken einen freundlichen Gruß von der Insel und wünschen viel Spaß. Wir haben alles verloren, unsere Ärzte, unsere Medizin, unsere Hoffnung auf ein sanftes Ende. Wir sind allein. Um uns rum fällt uns das Paradies in die Fresse, Orangen, Oliven, Oleander, wir können unsere Schmerzen lindern mit Thymian, unsere Nerven schonen mit Rosmarin, unsere Atmung mit Salbei regulieren. Aber lasst uns in diesen kostbaren Stunden nicht über alternative Heilmethoden diskutieren, lasst uns stattdessen unserer geliebten Ava G. einen epileptischen Anfall an den Hals wünschen, der sie zwingt, die letzten Momente ihrer Unsterblichkeit in den Armen von Gabriel zu verbringen, dem hübschesten Stalker der Insel, der nach vierzehn fast astreinen Aderlässen noch nicht mal einen Augenaufschlag von dieser Schabracke geerntet hat. Lasst uns realistisch sein, wer mit der Mittagsfähre nicht die Flucht ergriffen hat, wird mit der Insel untergehen, wer jetzt nicht liebt, wird es nie begreifen, wer jetzt nicht schreit, wird immer schweigen. Wer denkt, wir würden heute nicht senden, der ist nicht bei Trost.

      - Am Anfang standen ein paar einfache Fragen, ein paar simple Voraussetzungen, ein, zwei Überlegungen.

      - Ist die Umgebung geeignet, still, rauschfrei (Meer, Zikaden).

      - Kannst du mit klarer Stimme sprechen, nicht zu langsam, nicht zu schnell.

      - Kannst du sprechen.

      - Gibt es das technische Gerät, Mikro, Kopfhörer, Mischpult, Equalizer, wir brauchen Dynamikprozessoren, Effektprozessoren, wir brauchen Verstärker.

      - Wir brauchen Musik.

      - DJs.

      - Keine gewöhnlichen DJs.

      - Musik ist da, um erfunden zu werden.

      - Kannst du dir das vorstellen.

      - Wir brauchen DJs, die eine neue Musik in fremde Herzen knallen.

      - Laut.

      - Ehrlich.

      - Direkt.

      - Wir brauchen Struktur.

      - Jemanden, der durchs Programm führt, eine Moderation, am besten paarweise, falls einer ausfällt, plötzlich.

      - Etwas, das, wenn alles sich auflöst, noch zusammenhält.

      - Wir brauchen einen Jingle, und wir brauchen Satelliten, wir müssen uns verständlich machen.

      - Weltweit Baby.

      - Wir müssen unsere Stimme in einen unsichtbaren Raum schicken.

      - Geschwindigkeiten erreichen, Orte, Menschen, bei denen jeder den Verstand verlieren würde.

      - Wir müssen nicht bei Verstand sein.

      - Wir müssen nur reden reden reden.

      - Den Müll aus unserer Kehle zu Gold machen.

      - Daran glauben, dass diese Lippen Alchimisten sind.

      - Wir brauchen Philosophen.

      - Wir können Menschen eine Welt zeigen, die sie alles vergessen lässt.

      - Als erstes sich selbst.

      - Wir brauchen Korrespondenten.

      - Nachrichten.

      - Veranstaltungstipps.

      - Wir müssen Beiträge senden, relevant, gut recherchiert und außergewöhnlich.

      - Was ist das Außergewöhnliche an meinem Beitrag.

      - Ich muss meinen Beitrag im Vorfeld durchdenken, könnte das Thema noch jemanden außer mir interessieren, wie breit will ich fächern, Tod, Liebe, Wetter, wer, was, wo, wann, wie, warum.

      - Am Samstag, dem dritten September um 14:10 Uhr wurde die Insel G. von einem Erdbeben der Stärke 8,1 auf der Richterskala buchstäblich in der Mitte entzweigerissen, die 39 quadratkilometergroße Insel lag keine 40 Kilometer vom Epizentrum entfernt, der Herd der Erschütterung befand sich nur 10 Kilometer unter der Oberfläche, zwei Flutwellen in einer Höhe zwischen 14 und 15 Metern rissen sich zwischen 16:15 Uhr und 16:45 Uhr jedes bis zu diesem Zeitpunkt noch atmende Leben unter den Nagel, acht Fischer, sieben Hirten, achtzehn Bauern, fünf Verkäufer (Brot, Teppich, Fleisch, Zigaretten, Accessoires), ein Fährmann, zwei Barkeeper, sieben Verrückte, sechs Besucher (fünf Männer und eine Frau), ein Anwalt, drei Regisseure. 50 Menschen befanden sich auf der Insel, acht auf der Mittagsfähre, die auf offener See von dem Beben erfasst wurde. Keiner der 58 Körper konnte bisher aus dem Unglück geborgen worden. Der für Katastrophen vorgesehene Sammelplatz im Norden der Insel wurde von keiner Menschenseele erreicht. Das paradiesische Eiland, fernab vom Massentourismus, war ein beliebtes Ziel für Tagesausflügler vom Festland und hatte in den letzten Jahren von sich Reden gemacht durch ein mediales Vorzeigeprojekt, einen Meilenstein im Selbsthilfeprozess der Nervenkranken, eine Liebeserklärung der Wahnsinnigen ans Leben, eine Radiosendung live ausgestrahlt aus den Mauern der inseleigenen Psychiatrie, paradiesisch gelegen, im südlichsten Teil der Insel, am Rand der Welt, über einem rauschenden Meer, an einen Felsen geschmiegt.

      - Kann dein Beitrag die W-Fragen aufrichtig beantworten.

      - Hast du genug Zeit gehabt.

      - Zeit alles festzuhalten, Tänze, Blicke, Tränen.

      - Warum trauerst du um einen Ort, an dem du gefangen warst.

      - Um Menschen, ohne die es dir besser geht.

      - Dich selbst eingeschlossen.

      - Wie reagiert die Außenwelt auf ein Ereignis, das sie nicht betrifft, nicht so, nicht wie dich, nicht direkt.

      - Welche Meinung von außen lohnt es sich festzuhalten.

      - Wo findest du sie.

      - Was heißt überhaupt außen.

      - Außen heißt O-Töne (Flügel, Wellen, Stimmen), aber bist du bereit, dich zu bewegen, zu tauchen, zu klettern, zu fliegen, O-Töne an O-Orten (Strand, Grotten, Felsen, Meer).

      - Oder willst du die Außenwelt lieber im Studio zu Gast haben.

      - Du brauchst Stars im Säulengang.

      - Du musst objektiv bleiben

      - Du brauchst Experten.

      - Kannst