Jan van Leiden kniet vor Matthys. Heilige Maria Mutter Gottes (HMMG) erscheint vor ihm in der Ferne. Sie wird nur von Jan van Leiden und von den Zuschauern wahrgenommen.
JAN VAN LEIDEN
Wer bist du?
HMMG
Ich bin die Erinnerung an deine Mutter.
JAN VAN LEIDEN
Bist du mir nicht schon mal erschienen?
HMMG
Ja.
JAN VAN LEIDEN
Was willst du mir sagen?
HMMG
Ich will dich stets an deine verstorbene Mutter erinnern.
JAN VAN LEIDEN
Weißt du, wie sie gestorben ist? Das habe ich nie erfahren.
HMMG
Sie besuchte ihre Heimat, das Dorf Darup.
JAN VAN LEIDEN
Was suchte sie in Darup?
HMMG
Sie wollte die ihr zustehende Mitgift holen, um sie dann an dich zu vererben.
JAN VAN LEIDEN
Arme Mama.
HMMG
Auf der Rückreise nach Leiden wurde sie von einer Krankheit befallen, setzte sich auf dem Wegesrand an einen Baum und starb plötzlich. Vermutlich haben die Verwandten sie vergiftet.
JAN VAN LEIDEN
Ist das der Baum, an dem ich mein Auge verletzt habe?
HMMG
Ja, das ist der Baum. Du sollst alles im Namen deiner Mutter tun.
JAN VAN LEIDEN
Was soll ich tun?
HMMG
Du sollst König werden. (HMMG verschwindet.)
Matthys hält seine Hände über Jan van Leidens Kopf.
MATTHYS
Du sollst das Böse lassen und das Gute tun. (Matthys tauft van Leiden mit drei Händen voll Wasser.) Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen. (Matthys drückt ihm den Stempel mit den Buchstaben DWWF auf die Stirn.) Das Wort Wird Fleisch.
Van Leiden setzt sich besinnlich auf die Treppe. Divara nähert sich Matthys.
DIVARA
(deutet auf van Leiden) Ein Holländer?
MATTHYS
Er spricht deutsch, seine Mutter war aus Darup. Ein weitgereister Mann. Er war in England, in Lübeck, in Lissabon. Er hat was.
DIVARA
(sinnlich) Charisma. (Divara schaut Richtung van Leidens.)
MATTHYS
Was hast du vor?
DIVARA
Gar nichts.
Divara geht an van Leiden vorbei und ab. Matthys folgt ihr.
Rothmann vollzieht das Taufritual an den versammelten Städtern. Einer nach dem anderen knien vor ihm, Rothmann hält seine Hände über den Kopf des einzelnen:
ROTHMANN
Du sollst das Böse lassen und das Gute tun. (Rothmann tauft jeden einzelnen mit drei Händen voll Wasser.) Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen. (Rothmann drückt jedem einzelnen den Stempel mit den Buchstaben DWWF auf die Stirn.) Das Wort Wird Fleisch.
Matthys und Divara erscheinen auf der Vorbühne. Matthys zieht den Bühnenvorhang zu.
Privat. Zu Hause.
4. Bei Matthys Zuhause
MATTHYS
Hast du in letzter Zeit etwas beobachtet, was anders war als sonst?
DIVARA
(unsicher) Nein.
MATTHYS
Ist dir nichts Außergewöhnliches aufgefallen?
DIVARA
Was meinst du damit?
MATTHYS
Sind die Tage nicht deutlich kürzer geworden?
DIVARA
Wir gehen auf die Sommersonnenwende zu, die Tage werden länger.
Matthys atmet schwer aus.
MATTHYS
Hat sich die Sonne in letzter Zeit nicht deutlich verfinstert?
DIVARA
Die Sonne ist wie immer. Sogar etwas strahlender. Seit van Leidens Ankunft.
MATTHYS
Ja, der Mann hat Charisma.
(Divara lacht laut auf.)
Nicht so laut!
DIVARA
Was ist mit dir? Holt dich deine Melancholie wieder ein?
MATTHYS
Wenn es nur das wäre.
(Matthys atmet schwer aus. Divara ist ungeduldig.)
Hast du heute Nacht den Himmel beobachtet?
DIVARA
Ja.
MATTHYS
Fielen übermäßig viele Sterne herunter?
DIVARA
Nein, sie waren kaum sichtbar, der Mond leuchtete zu grell.
MATTHYS
Er war also nicht unsichtbar?
DIVARA
Es ist Vollmond! Morgen ist Ostern.
MATTHYS
Das ist es, was mich zum Wahnsinn treibt! Ich habe das Wiederkommen Christi für Ostern vorausgesagt. Davor müssen aber die Kräfte des Himmels erschüttert werden. Dann erst erscheint das Zeichen des Menschensohnes am Himmel. Das alles ist bis jetzt nicht eingetroffen. Ich habe mich völlig verrechnen! Es ist noch viel zu früh dafür! Wir haben nicht mal das Neue Jerusalem eingerichtet – das ist aber die Voraussetzung für die Wiederkunft. Die Belagerung der Stadt durch die Bischofstruppen verhindert den Zulauf der Gläubigen aus Holland.
(Matthys reißt den Bühnenvorhang auf, schreit in die Menge) Wir sind viel zu wenig. Die Zahl der Auserwählten – die Gemeinde der Rechtgläubigen zum Neuen Jerusalem am Tag der Wiederkunft Christi ist festgelegt: 144 Tausend. Wie viele sind wir?
DIVARA
1400.
MATTHYS
Schluss jetzt! Meine Geduld ist am Ende! Hinweg mit den Kindern Esaus, das Erbe gehört den Söhnen Jakobs! Hinweg mit den Gottlosen, welche sich der Taufe verweigern! Sie sollen aus der Stadt hinausgejagt werden! Damit durch den Verkehr mit ihnen das Volk Gottes nicht bemäkelt werde! (Matthys zieht den Vorhang wieder zu.)
DIVARA
Du warst jetzt wirklich rasend.
MATTHYS
Ich überlasse es dir. Entweder du bekehrst sie, oder sie werden gnadenlos vertrieben. Ohne Hab und Gut. Samt Weibern und Kindern. Die Häuser der Gottlosen kriegen die Zugezogenen. Wir müssen uns rasch vermehren, damit die Wiederkunft Christi für nächstes Ostern vorbereitet ist. Sonst stehen wir wie völlige Vollpfosten da.
DIVARA
Wie soll ich die Gottlosen bekehren?
MATTHYS
Lass deine Reize spielen, was weiß ich! Ich nehme ein paar Männer mit und reite zum Bischofslager. Ich werde