Der Geschäftsinhaber sah sie empört an: »Wollen Sie mich denn völlig in den Ruin treiben?« fragte er. »Sie wissen ganz genau, daß ich privat versichert bin und einen so hohen Selbstbehalt habe, daß ich mich bei einem Arztbesuch dumm und dämlich zahlen muß.«
»Das müßten Sie nicht, wenn Sie zu höheren Beitragszahlungen bereit wären, Herr Schneider«, erwiderte Gisela und straffte die Schultern.
»Meine Privatangelegenheiten gehen Sie überhaupt nichts an«, brauste Guido Schneider auf.
Frau Hofer arbeitete seit über zehn Jahren für ihn. Sie wußte, daß sie sich einiges erlauben konnte, weil er sie auf keinen Fall entlassen würde. Außerdem würde er für eine Fachkraft, wie sie es war, bei Neueinstellung bedeutend mehr bezahlen müssen.
»Wenn Sie nicht zum Arzt gehen wollen, Herr Schneider, könnte es womöglich schon helfen, ab und zu mal etwas Vernünftiges zu essen, statt nur von Päckchensuppe und altem Brot zu leben«, erklärte sie.
Das Gesicht des Geschäftsinhabers lief rot an. Bevor er noch etwas sagen konnte, hörten sie, wie die Ladentür ging und hintereinander drei Kunden kamen. Gisela Hofer ließ ihn einfach stehen und ging in den Verkaufsraum hinüber. Kurz darauf folgte er ihr.
Im Laufe des Nachmittags wurden Guidos Schmerzen so schlimm, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als in der Praxis von Dr. Baumann anzurufen. Tina Martens sagte ihm, daß er um fünf Uhr kommen sollte.
Guido Schneider wußte, daß es ihm unmöglich sein würde, mit seinem eigenen Wagen zu Doktor Baumann zu fahren. Ein Taxi war ihm jedoch zu teuer, deshalb bat der Frau Hofer, ihn zum Arzt zu bringen. »Sie können dann gleich zum Geschäft zurückfahren«, sagte er. »Wenn ich fertig bin, werde ich Frau Martens bitten, Sie anzurufen.«
»Wie Sie wünschen, Herr Schneider«, erwiderte Gisela und holte ihren Wagenschlüssel. Sie dachte an die junge Frau, die sie am Montagabend vor dem Geschäft gesehen hatte. Noch hatte sie ihrem Chef nichts davon erzählt und sie war sich nicht sicher, ob sie es tun sollte. Immerhin konnte es sein, daß sie sich irrte und es sich bei dieser Frau nicht um seine Tochter handelte.
Als Guido Schneider die Praxis von Dr. Baumann betrat, fiel es ihm schwer, aufrecht zu gehen. Sein ganzer Körper schien nur noch ein einziger Schmerz zu sein. So starke Magenschmerzen hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Mit beiden Händen stützte er sich auf den Aufnahmetresen in der Anmeldung.
»Wäre es möglich, daß ich gleich zu Doktor Baumann ins Sprechzimmer kann?« Er griff in seine Hosentasche, nahm ein Taschentuch heraus und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
Tina Martens erkannte sofort, wie schlecht es Herrn Schneider ging. »Im Moment ist noch ein Patient bei Doktor Baumann«, sagte sie. »Nehmen Sie bitte im Gang Platz. Ich sorge dafür, daß Sie als nächster drankommen.«
»Danke«, murmelte Guido und schleppte sich zu der gepolsterten Bank, die gegenüber dem Wartezimmer stand.
Tina schaute zu ihm hinüber. Es war ihr unbegreiflich, wie ein so wohlhabender Mann wie Guido Schneider derart abgerissen herumlaufen konnte. Seine Kleidung wirkte, als hätte er sie einer Vogelscheuche ausgezogen. Sie dachte an die Gerüchte, die sie über ihn gehört hatte. Es hieß, daß er mit seinem Geiz nicht nur seine erste Frau aus dem Haus getrieben hatte, sondern auch seine zweite. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich, er würde in Lebensmittelgeschäften stets nach abgelaufenen Waren suchen oder danach fragen.
Dr. Baumann begleitete Anna-Maria Cremer zur Aufnahme. Als er an Guido vorüber kam, nickte er ihm zu. »Bitte vergessen Sie nicht, Ihre Medikamente regelmäßig einzunehmen, Frau Cremer«, ermahnte er seine Patientin. »Wir sehen uns nächste Woche wieder.«
Frau Cremer verabschiedete sich von dem Arzt, rief noch Tina einen Gruß zu und verließ die Praxis.
»Würden Sie bitte gleich Herrn Schneider drannehmen, Doktor Baumann?« bat Tina Martens und sagte ihrem Chef, daß sein Patient große Schmerzen hatte.
»Geht in Ordnung, Tina«, meinte Eric, ging auf Guido Schneider zu und bat ihn in sein Sprechzimmer.
Dr. Baumann untersuchte den Geschäftsinhaber sehr gründlich. Er kannte diesen Mann seit seiner Kindheit. Die Schneiders waren bereits bei seinem Vater in Behandlung gewesen. Guido Schneider litt seit Jahren an einem nervösen Magen. Eric war überzeugt, daß dabei sein sprichwörtlicher Geiz eine große Rolle spielte. All sein Denken schien sich nur darum zu drehen, wo er noch etwas einsparen konnte.
»Es bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie zu einer Gastroskopie ins Krankenhaus zu schicken, Herr Schneider«, sagte er, nachdem er seinen Patienten gebeten hatte, sich anzuziehen. »Es handelt sich um eine ambulante Untersuchung«, fügte er hinzu.
»Sie können mich nicht wegen meiner Magenbeschwerden gleich ins Krankenhaus schicken«, protestierte Guido Schneider und knöpfte sein Hemd zu. »Geben Sie mir etwas gegen die Schmerzen, das reicht.«
»Nein, Herr Schneider, das reicht nicht«, widersprach Eric. Er sah seinen Patienten eindringlich an. »Alles deutet darauf hin, daß Sie eine sehr schwere Gastritis haben. Es wäre wirklich besser, der Sache auf den Grund zu gehen, da durchaus auch der Verdacht auf ein Magengeschwür besteht.« Oder etwas Schlimmeres, fügte er in Gedanken hinzu. Die Symptome, die ihm der Mann geschildert hatte, ließen die Sache alles andere als harmlos erscheinen.
Guido Schneider schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Doktor Baumann, ich sehe diese Kosten nicht ein.«
Eric zwang sich, nicht die Geduld zu verlieren. Vergeblich versuchte er, seinen Patienten davon zu überzeugen, wie wichtig eine gründliche Untersuchung im Krankenhaus war. Schließlich gab er auf. Er konnte Guido Schneider nicht zu dieser Untersuchung zwingen. So blieb ihm nichts weiter übrig, als dem Mann etwas gegen seine Schmerzen zu geben, ihm ein Rezept auszuschreiben und ihn zu bitten, während der nächsten Tage im Bett zu bleiben und leichte Kost zu sich zu nehmen.
»Sie werden sehen, morgen wird es mir bereits bessergehen, Doktor Baumann«, meinte
Guido Schneider, als er das Rezept in seine Jackentasche steckte.
»Und wenn nicht, sollten Sie meinen Rat annehmen und sich einer gründlichen Untersuchung unterziehen, Herr Schneider.«
Guido dachte nach. »Warten wir es ab«, sagte er und reichte Dr. Baumann zum Abschied die Hand. Dank des Schmerzmittels ging es ihm bereits besser. Er war überzeugt, daß Dr. Baumann aus einer Mücke einen Elefanten machte. Zufrieden verließ er das Sprechzimmer und wandte sich dem Aufnahmetresen zu, um Tina Martens zu bitten, Frau Hofer anzurufen.
Eric nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Er machte sich große Sorgen um seinen Patienten, dennoch waren ihm die Hände gebunden. Allerdings war er überzeugt, daß Guido Schneider über kurz oder lang nichts anderes übrigbleiben würde, als ins Krankenhaus zu gehen, ob er wollte oder nicht.
*
Barbara Schneider hatte schon einige schöne Tage in Rottach-Egern verbracht. Sie war auf dem Wallberg gewesen, nach Kreuth gefahren und hatte mehrere Wanderungen unternommen. Am Sonntagnachmittag saß sie bei einem verspäteten Mittagessen in einem kleinen Restaurant und überlegte, ob sie nicht endlich ihren Vater aufsuchen sollte. Während der letzten Tage war sie noch mehrmals in Tegernsee gewesen und hatte vor seinem Geschäft gestanden, sich jedoch nicht entschließen können, es auch zu betreten. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er sich über ihren Besuch freuen würde.
Morgen ist auch noch ein Tag, dachte die junge Frau und bestellte sich zum Nachtisch ein Eis.
Nach dem Essen ging sie zum See hinunter und schaute auf das Wasser hinaus. Ganz in der Nähe lag