Franz nickte grimmig. »Das machst du aber nicht noch mal mit mir, meine Liebe.« Er hob den Kopf, sein frisches Jungengesicht war voll Entrüstung. »Mir hat Sonja gesagt, daß ihr Vater mich bittet, mit Sonja bei Flutlicht Schittschuh zu fahren. Ich Dummkopf hab’ das natürlich geglaubt. Als wir ins Hotel zurückkamen, war Herr Zimmermann in heller Aufregung, weil seine Tochter nicht da war, wo sie sein sollte.«
»Nämlich im Bett«, lachte Sonja vergnügt. »Bist du immer noch sauer, Franz? Mensch, bist du aber nachtragend. In Zukunft brauche ich dich gar nicht mehr. Jetzt ist ja Marianne da.«
Der Fahrstuhl hielt, Franz sah den beiden kopfschüttelnd nach.
Sie gehörte zu den Kindern, denen jeder Wunsch erfüllt wurde. So lange er zurückdenken konnte, hatte Franz die reichen Kinder beneidet.
Aber jetzt dachte er an den Satz, den Herr Kaiser gemurmelt hatte, als Sonja in der Halle spielte: armes reiches Mädchen.
Nun, wenn er an die Rothaarige dachte, die ihre Mutter werden sollte, mochte das stimmen. Natürlich würde Franz es niemandem sagen, aber er hatte Angst vor dieser Frau, und er ging ihr tunlichst aus dem Weg.
*
»Das ist Annemarie.« Sonja zeigte auf das Stubenmädchen, das gerade Mariannes Koffer auf den Schrank hob. »Sie hat zu Hause noch sieben Geschwister. Kannst du dir das vorstellen, Marianne?«
Die lachte. »Sehr gut sogar. Es muß herrlich sein, so viele Geschwister zu haben. Ich danke Ihnen, Fräulein Annemarie, daß Sie mir die Arbeit abgenommen haben.«
Diese Freundlichkeit war echt, das spürte Annemarie natürlich auch. »Bitte sagen Sie Annemarie zu mir. Das Auspacken der Koffer gehört zu meinen Aufgaben. Wenn Sie einen Wunsch haben, wenn etwas aufgebügelt werden soll oder etwas zur Reinigung gebracht werden muß, dann sagen Sie es mir bitte.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Auch Annemarie bekam Trinkgeld, viel mehr, als Marianne sich eigentlich leisten konnte. In Zukunft muß ich etwas sparsamer sein, dachte Marianne, während sie sich im Zimmer umsah.
»Schön«, sagte sie nach einem tiefen Atemzug. In diesem Augenblick nahm Marianne sich ganz fest vor, den Aufenthalt hier zu genießen. Jede Stunde, jeden Tag. Sie wollte nicht daran denken, daß sie noch immer keine Stelle hatte, sie wollte die Zeit nur einfach bewußt genießen.
Ja, und noch etwas nahm sie sich vor. Sie hatte gar keinen Grund, unsicher oder verlegen zu sein. Schließlich und endlich hatten ihre Eltern sich mit ihrer Erziehung genug Mühe gegeben, es würde ihr keine Schwierigkeiten machen, sich in diesem Rahmen zu bewegen. Und wenn die anderen Gäste reicher und vornehmer waren als sie, hatte das mit ihr selbst nichts zu tun.
Ich bin ich.
»Warum siehst du so… so
energisch aus, Marianne?«
Die Kleine musterte sie ängstlich. »Ich hab’ mal so ein Gesicht gemacht, als ich mir selbst eine Ohrfeige gegeben habe.«
Marianne lachte hellauf. »Wie hast du denn dein Gesicht sehen können?« Sie kniete auf dem Boden, damit sie mit den Augen des Kindes auf einer Höhe war.
»Im Spiegel natürlich.«
»Du kannst aber gut beobachten, Sonja. Vor dir muß man sich in acht nehmen.«
»Du willst mich auf den Arm nehmen, aber bei dir stört mich das nicht. Eigentlich kann ich das nämlich überhaupt nicht leiden, wenn man über mich lacht.«
Marianne strich der Kleinen eine Locke aus der Stirn. Sehr lieb sagte sie: »Ich würde nie über ein Kind lachen, Sonja. Das ist sehr häßlich. Ich lache gern mit einem anderen, aber nicht über ihn.«
Die Kleine rückte an sie, daß Marianne beinahe den Halt verlor, so ungestüm geschah es.
»Es macht mich wütend, ja, verrückt, wenn Isabella über mich lacht. ›Oh, diese Kleine‹, sie legte den Kopf zur Seite und ahmte die Stimme nach, ›du bist wirklich ein unmögliches Kind.‹ Aber wenn mein Vater dabei ist, dann ist sie ganz anders. Dann ist sie… noch widerlicher. Dann spricht sie mit so einer süßen Stimme, seufzt, daß ich ihre Zärtlichkeit nicht erwidere. Weißt du, was sie meinem Vater ins Ohr tutet, daß sie sich mit mir so schrecklich viel Mühe gibt. Dabei lügt sie wie gedruckt. Wenn Papa nicht da ist, kümmert sie sich überhaupt nicht um mich. Zum Glück nicht.«
Das eben noch so glückliche Gesichtchen war kummervoll verzogen, und die Augen sahen aus, als wollten sie jeden Augenblick überlaufen. Marianne wurde es sehr unbehaglich zumute.
Sie strich noch einmal über das kleine Gesichtchen und lächelte mit all der Zärtlichkeit, die sie für das fremde Wesen spürte. Dabei hatte Marianne bis jetzt gar nicht gewußt, daß sie sich etwas aus Kindern machte.
»Manchmal versteht man als Kind die Erwachsenen nicht«, murmelte sie unbehaglich.
»Aber die Erwachsenen die Kinder auch nicht«, trompetete Sonja und hatte ihre Traurigkeit offensichtlich schon wieder vergessen. Sie zog Marianne zum Fenster.
»Von meinem Fenster gucke ich auch auf den Hang. Das ist zum Totlachen, wenn einige den Hang runterpurzeln. Und erst wenn du die Skischulen beobachtest, dann kommst du aus dem Lachen überhaupt nicht heraus. Guck mal, guck mal, da kommt mein Vater. Den erkenne ich unter Millionen. Der da, der den gelben Anorak trägt. Fährt der nicht doll? Wenn ich groß bin, will ich auch so fahren können. Dann fahren wir immer zusammen, er und ich. Aber nur über schwarze Pisten. Die fährt er nämlich am liebsten, sagt er.«
Es war ein hochgewachsener Mann, der den Hang hinunterwedelte, als wäre er aus einem Lehrbuch gehüpft.
Sonja stürzte zur Tür und riß sie auf.
»Ich muß sausen, Marianne. Ich will eher bei Papi sein als sie. Ich muß ihm doch erzählen, daß endlich ein nettes Mädchen im Hotel wohnt.«
Fort war sie. Marianne sah noch einmal hinaus und suchte mit den Augen den Mann. Er löste sich aus dem Gewirr der Skifahrer, mit dem Stock drückte er auf die Bindung und löste die Ski. Er war schneller als die anderen, und doch wirkten seine Bewegungen nicht hastig. Jetzt schulterte er die Bretter und ging mit großen Schritten über die Straße. Und entschwand ihrem Blick.
*
Herr Kaiser nahm einem Gast den Schlüssel ab, lächelte verbindlich und betrachtete gleichzeitig sehr zufrieden das junge Mädchen, das leichtfüßig die Treppe hinunterkam.
Mariannes Natürlichkeit war wohltuend und stach sehr von dem Benehmen einiger Damen ab. Sie lächelte ihm zu, keineswegs vertraulich und auch nicht distanziert, und er gab das Lächeln in der gleichen Weise zurück.
Natürlich hatte Marianne ein wenig Herzklopfen. Es fiel ihr immer schwer, einen Saal zu betreten, wenn sie allein war. Sogar in der Mensa hatte sie Herzklopfen gehabt.
Daß es gerade ihre mädchenhafte Schüchternheit war, die so anziehend wirkte, wußte Marianne natürlich nicht. Sie wäre auch keineswegs glücklich darüber gewesen, wollte sie doch so gern kühl und selbstbewußt wirken.
Starrten nicht alle Gäste sie an? War nicht sogar das Stimmengewirr leiser geworden?
Sie war erleichtert, als ein befrackter Kellner sie bemerkte und sofort auf sie zukam.
»Zimmer 14, Fräulein Ziegler«, lächelte er mit einer leichten Verbeugung und brachte sie zu ihrem Tisch.
Es war ein kleiner Tisch, der nahe am Fenster stand, eine hochgewachsene Palme verdeckte sie sogar ein wenig vor allzu neugierigen Blicken. Erleichtert ließ Marianne sich auf den Stuhl fallen, den der Kellner ihr zurechtrückte.
Er reichte ihr die Speisekarte. »Möchten Sie etwas trinken?«
Ob er ihre Unsicherheit bemerkte? Er beriet sie mit distanzierter Freundlichkeit, und als sie einen Blick in die reichhaltige Speisekarte warf, bat er:
»Darf ich Sie beraten, gnädiges Fräulein? Der Rehrücken mit Preißelbeeren, Birnen und Spätzle ist heuer ausgezeichnet.«