Berger presste die Lippen so fest zusammen, dass sein Mund nur noch ein schmaler Strich war. Vielleicht gelang es ihm nur so, nicht zu widersprechen. Wie schwer ihm das fiel, konnte Daniel nur erahnen. Berger brummte schließlich leise ein Zeichen seiner Zustimmung und schickte sich dann an, das Büro zu verlassen.
»Ach, übrigens«, hielt Daniel ihn auf. »Denken Sie bitte daran, den Urlaubsplan zu überarbeiten. Bis Sie am Freitag Ihren Urlaub antreten, muss er fertig sein.«
Berger schnaufte auf und stürmte dann aus dem Büro.
Im Vorzimmer des Chefarztes saß Katja Baumann, Daniels Assistentin, an ihrem Schreibtisch. Sie sah sofort, wie es um die Stimmung des Notfallmediziners bestellt war. Es gab nur wenige Menschen, die wussten, dass Erik Berger einen weichen, verletzlichen Kern besaß und sein sprödes Wesen davon ablenken sollte. Katja gehörte dazu. Sie wusste von seiner inneren Zerrissenheit und seinem großen Kummer, der ihn so heftig quälte, dass kein Raum für Glück und Frohsinn blieb.
Als Berger wütend an ihr vorbeistampfte, schenkte sie ihm deshalb trotz seines grimmigen Gesichtsausdrucks ein aufmunterndes, sanftes Lächeln. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Dr. Berger.«
Diesmal hatte sie damit keinen Erfolg bei ihm. Seine ohnehin schon düstere Miene verfinsterte sich noch mehr. »Halten Sie bloß den Mund!«, blaffte er sie aufgebracht an. Er stürzte hinaus und schmiss die Tür so heftig hinter sich zu, dass die Fensterscheiben leise vibrierten.
Katja sah ihm mit offenem Mund nach, dann sprang sie auf und flitzte in das Büro ihres Chefs. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte sie atemlos.
Daniel seufzte. »Ich habe ihn in den Urlaub geschickt.«
»Ach nein!«, rief Katja entsetzt aus. »Wie konnten Sie ihm das nur antun?«
*
Am Freitagnachmittag verließ Dr. Christina Rohde unter den mitleidigen Blicken der Schwestern und Pfleger die chirurgische Station, um in die Aufnahme zu gehen. Dr. Erik Berger erwartete sie. In der nächsten Stunde würde er ihr seinen Bereich übergeben und seinen Urlaub antreten. Alle wussten, dass er dies nicht freiwillig tat. Und alle waren sich sicher, dass es einer Bestrafung gleichkam, ihn vertreten zu müssen.
Niemand ahnte, dass Christina Rohde das nicht so sah. Sie freute sich sogar darauf. Als sie vor einigen Jahren die Facharztausbildung an ihrer alten Klinik in Dresden gemacht hatte, musste sie auch für ein längeres Praktikum in die Notaufnahme. Die anspruchsvolle und abwechslungsreiche Arbeit dort hatte ihr gefallen. Sie war etwas Besonderes gewesen und hatte mit den üblichen Abläufen einer Station nichts gemein. Hier traf sich alles: vom Säugling bis zum Greis; leichte und schwere Krankheitsfälle oder echte Ausnahmesituationen. Nicht selten ging es dabei um Leben und Tod. Da blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken und langem Abwägen.
Blitzschnell mussten Entscheidungen getroffen werden, die über ein Menschenschicksal bestimmen konnten.
Früher hatte sich Christina vorstellen können, ihr berufliches Leben ausschließlich der Notfallmedizin zu widmen. Sie hatte sogar eine zusätzliche Weiterbildung zum Notfallmediziner absolviert. Davon wussten nur wenige, nahestehende Menschen. Dr. Norden, ihrem Chef, war das natürlich auch bekannt. Das war auch der Grund, warum er sie als Vertretung für Dr. Berger ausgewählt hatte. Christina seufzte leise auf. Der unausstehliche Leiter der Notaufnahme war der einzige Wermutstropfen bei der Sache. Mit einem unguten Gefühl dachte sie an die bevorstehende Übergabe. Doch dann straffte sie die Schultern, strich ihr dunkles Haar zurück und betrat mit einer Mischung aus Vorfreude und erwartungsvoller Anspannung die Aufnahme der Behnisch-Klinik. Sie würde diese Stunde mit Berger schon überstehen. Und danach würde sie die Arbeit hier so richtig genießen.
Nur ein Blick in das missmutige Gesicht von Erik Berger, der sie bereits an seinem Schreibtisch erwartete, versetzte ihrer guten Laune einen spürbaren Dämpfer.
»Na endlich!«, schnauzte er die junge Ärztin an. Demonstrativ sah er auf die Uhr. »Wir hatten drei Uhr abgemacht und nicht zehn nach drei!«
Christina zog den Kopf ein. Eine dumme Angewohnheit, die sie manchmal überkam, wenn der Ton etwas rauer wurde. Doch sie hatte sich schnell wieder im Griff. Niemals würde sie diesem arroganten und ungehobeltem Kollegen zeigen, wie sehr sie sein rüdes Benehmen erschrecken konnte. Sie stellte sich aufrechter hin und sah ihn unerschrocken an.
»Irrtum, Herr Berger. Es war abgemacht gewesen, dass ich gegen drei vorbeikomme. Gegen drei, nicht um drei! Sie wissen, dass ich bis zum Schluss im OP zu tun hatte.«
»Na und? Was stört’s mich? Mich fragt ja auch keiner, was ich von diesem Schwachsinn halte. Und nun kommen Sie schon her! Sie können es bestimmt nicht abwarten, mich loszuwerden, um hier das Zepter schwingen zu dürfen!«
Nun war Christina richtig sauer. Warum griff Berger sie so an? Was hatte sie denn Schlimmes getan? Es wurde Zeit, ihm mal ordentlich die Meinung zu sagen.
»Und schon wieder irren Sie sich, Herr Berger«, erwiderte sie frostig. »Ich bin nicht freiwillig hier gelandet, sondern wurde dazu verdonnert. Nur zu Ihrer Information: Niemand ist scharf darauf, die Vertretung für Sie zu übernehmen. Und das liegt nur an Ihren unmöglichen Umgangsformen und Ihrer schlechten Laune.«
Berger kniff die Augen zusammen und fixierte sie mit einem Blick, der schon so manchem Assistenzarzt das Fürchten gelehrt hatte. »Wollen Sie etwa sagen, dass ich launisch wäre und unter Stimmungsschwankungen leide?«, knurrte er gefährlich leise. Sein Versuch, die adrette Brünette damit einzuschüchtern, schlug allerdings fehl.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Christina nur genervt. »Ihre Stimmung schwankt nicht. Die ist immer gleichbleibend mies. Und nun wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mit dem Gezanke aufhören würden. Übergeben Sie mir die Aufnahme, und dann verabschieden Sie sich in den Urlaub.«
Erik schnappte kurz nach Luft, mit einer heftigen Erwiderung auf den Lippen. Christina rechnete schon damit, dass sich dieser unliebsame Disput endlos fortsetzen würde. Aber zu ihrer großen Überraschung begann Berger plötzlich mit der Übergabe. Dabei war nicht zu übersehen, wie schwer es ihm fiel, das Ruder aus der Hand zu geben. Trotzdem tat er sein Bestes, wie Christina zugeben musste. Er achtete darauf, dass seine Erklärungen verständlich waren, und beantwortete ihre Nachfragen mit einer Geduld, die sie ihm nie zugetraut hätte. Sie wusste, dass er nicht unvermittelt zu einem Menschenfreund geworden war.
Vielmehr lag ihm das Schicksal der Aufnahme, ihrer Mitarbeiter und vor allem der Patienten am Herzen. Wenn er schon gehen musste, sollten sie nicht darunter zu leiden haben.
Sie waren soeben am Ende angelangt, als Schwester Anna hereinschaute. »Darf ich kurz stören? Ein Zugang in der Drei, Dr. …«
»Was liegt an?«, fragte Berger und sprang auf.
»Äh … ich … also, eigentlich meinte ich Frau Dr. Rohde«, wand sich Anna verlegen. Ihr Blick wanderte zwischen den beiden Ärzten hin und her. »Sind Sie denn nicht bereits im Urlaub, Dr. Berger?«
»Sehe ich aus, als wäre ich das?«, ätzte Erik.
»Kein Grund, sich so aufzuregen, Herr Berger«, mischte sich Christina schnell ein. Die freundliche Schwester hatte diesen hässlichen Umgangston nicht verdient. Aufmunternd lächelte sie ihr zu: »Also, Schwester Anna, um was geht es denn?«
»Wir haben einen Neuzugang. Ein alter Bekannter, Herr Lehmkuhl, den wohl wieder ein Nierenstein zu schaffen macht.«
»Den übernehme ich«, entschied Berger.
»Nein!«, rief Christina verärgert aus. »Herr Lehmkuhl ist mein Patient! Es war abgemacht, dass Sie nach der Übergabe in den Urlaub verschwinden und ich hier weitermache.«
»Was für ein Nonsens! Niemand kennt den Patienten so gut wie ich. Ich werde nicht zulassen, dass Sie an ihm rumdoktern, ohne zu wissen, was Sie da tun. Ich behandle ihn, und danach gehe ich in den Urlaub! Wenn Ihnen das nicht passt, rennen