»Gottgefälliger Mensch! Lassen Sie mich Ihre Hand küssen!« rief Fjodor Pawlowitsch, sprang auf und drückte dem Starez schnell einen schmatzenden Kuß auf die magere Hand. »Ja, ja, so ist es, genauso; es ist angenehm, sich beleidigt zu fühlen, Sie haben das so schön gesagt, wie ich es noch nie gehört habe. Ganz so, genauso habe ich mich mein Leben lang beleidigt gefühlt, bis ich Genuß empfand. Auch aus ästhetischen Gründen, denn es ist manchmal auch schön, beleidigt zu sein. Das haben Sie noch vergessen, großer Starez: schön! Das werde ich mir ins Notizbuch schreiben! Und gelogen habe ich mein Leben lang, täglich und stündlich. Wahrlich, ich bin die Lüge selbst, ich bin der Vater der Lüge! Nein, nicht der Vater der Lüge, da habe ich mich im Ausdruck vergriffen, vielleicht eher der Sohn der Lüge, das reicht ja auch schon. Nur wissen Sie, mein Schutzengel: So etwas wie das über Diderot darf man doch manchmal sagen? So etwas kann doch keinen Schaden anrichten? Wohl aber sagt man manches andere, und das schadet dann. Apropos, großer Starez, das hätte ich fast vergessen – schon seit drei Jahren habe ich mir vorgenommen, mich hier zu erkundigen, herzufahren und dringend um Auskunft zu bitten. Verbieten Sie bloß diesem Pjotr Alexandrowitsch, mich zu unterbrechen. Wonach ich fragen möchte, ist dies: Ist es wahr, großer Vater, was irgendwo in den ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹ über einen heiligen Wundertäter berichtet wird? Er soll wegen des Glaubens gemartert worden sein, und als man ihm den Kopf abgeschlagen hatte, soll er aufgestanden sein, seinen Kopf aufgehoben und ihn ›liebevoll geküßt‹ haben. Er soll lange so mit dem Kopf umhergegangen sein; ihn ›liebevoll küssend‹. Ist das nun wahr oder nicht, meine ehrenwerten Väter?«
»Nein, das ist nicht wahr«, sagte der Starez.
»Es steht nichts Derartiges in den ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹. Von welchen Heiligen soll denn das geschrieben stehen?« fragte einer der Priestermönche, der Vater Bibliothekar.
»Das weiß ich selbst nicht, weiß ich wirklich nicht. Ich bin getäuscht worden; man hat es mir erzählt. Ich habe es gehört, und wissen Sie, wer es erzählt. hat? Hier, Pjotr Alexandrowitsch Miussow, der sich soeben über Diderot ereifert hat, der hat's erzählt.«
»Ich habe Ihnen das nie erzählt; ich rede überhaupt nicht mit Ihnen.«
»Das ist richtig, mir haben Sie es nicht erzählt, wohl aber in einer Gesellschaft, in der ich anwesend war, vor drei oder vier Jahren. Ich erwähne das, weil Sie durch diese lächerliche Geschichte meinen Glauben erschüttert haben, Pjotr Alexandrowitsch. Sie wußten es nicht; aber ich bin mit erschüttertem Glauben nach Hause zurückgekehrt, und seitdem ist mein Glauben immer mehr wankend geworden. Ja, Pjotr Alexandrowitsch, Sie waren die Ursache eines verhängnisvollen Falles. Das ist denn doch was anderes als das Geschichtchen über Diderot!«
Fjodor Pawlowitsch hatte sich in ein hitziges Pathos hineingesteigert; doch war es allen klar, daß er sich wieder nur verstellte. Trotzdem fühlte sich Miussow tief verletzt.
»Was ist das für Unsinn; das ist alles lauter Unsinn!« brummte er. »Ich habe es vielleicht wirklich einmal erzählt, aber nicht Ihnen. Es ist mir selbst erzählt worden. Ich hörte es in Paris von einem Franzosen; er sagte, es stehe in unseren ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹ und werde bei der Messe vorgelesen ... Es war ein sehr gelehrter Mann, der sich besonders mit dem Studium der Statistik Rußlands beschäftigte und lange in Rußland gelebt hatte ... Ich selbst habe die ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹ nicht gelesen und werde sie auch nicht lesen. Was plaudert man nicht alles bei Tische. Wir speisten damals gerade ...«
»Ja, Sie speisten damals gerade, und ich verlor meinen Glauben!« reizte ihn Fjodor Pawlowitsch.
»Was schert mich Ihr Glaube!« schrie Miussow, gewann dann aber schnell die Selbstbeherrschung zurück und fuhr voll Verachtung fort: »Sie besudeln buchstäblich alles, womit Sie in Berührung kommen.«
Der Starez erhob sich auf einmal von seinem Platz.
»Verzeihen Sie, meine Herren, daß ich Sie für ein Weilchen verlasse, nur auf ein paar Minuten«, wandte er sich an die Besucher. »Es warten Leute auf mich, die schon vor Ihnen da waren. Sie aber bitte ich, nicht zu lügen«, fügte er, zu Fjodor Pawlowitsch gewandt, mit heiterer Miene hinzu.
Er verließ die Zelle; Aljoscha und der Novize sprangen hinzu, um ihn die Stufen vor der Tür hinunterzuführen. Aljoscha atmete nur mühsam; er war froh hinauszukommen, aber er freute sich auch, daß der Starez sich nicht gekränkt fühlte, sondern heiter war.
Der Starez wollte sich zur Galerie begeben, um die Wartenden zu segnen. Aber Fjodor Pawlowitsch hielt ihn doch noch an der Tür der Zelle fest.
»Gottgefälligster Mensch!« rief er gefühlvoll. »Erlauben Sie mir, Ihnen noch einmal die Hand zu küssen! Mit Ihnen kann man noch reden, mit Ihnen kann man leben! Sie glauben wohl, daß ich immer so dumm bin und den Possenreißer spiele? So sollen Sie wissen, daß ich mich die ganze Zeit absichtlich verstellte, um Sie auszuforschen. Ich habe die ganze Zeit an Ihnen herumgetastet, ob man wohl mit Ihnen leben könnte, ob mein bescheidenes Persönchen neben Ihrer stolzen Person einen Platz fände. Ich stelle Ihnen ein Belobigungszeugnis aus: Man kann mit Ihnen leben. Und jetzt werde ich schweigen; die ganze Zeit werde ich schweigen. Ich werde auf dem Lehnstuhl sitzen und schweigen. Jetzt, Pjotr Alexandrowitsch, ist es an Ihnen, zu reden; jetzt sind Sie die Hauptperson – für zehn Minuten.«
3. Gläubige Weiber
Unten an der kleinen hölzernen Galerie, die an die Außenseite der Ringmauer angebaut war, hatten sich diesmal nur Weiber aus dem einfachen Volk versammelt, etwa zwanzig. Man hatte sie benachrichtigt, daß der Starez endlich herauskommen werde, und so drängten sie sich erwartungsvoll. Die Gutsbesitzerin Frau Chochlakowa und ihre Tochter, die auch auf den Starez warteten, waren auf die Galerie herausgekommen, befanden sich aber in jenem Teil, der für vornehmere Besucher bestimmt war. Frau Chochlakowa, eine reiche, stets geschmackvoll gekleidete junge Dame, war eine sehr angenehme Erscheinung, ein wenig blaß, mit sehr lebhaften, fast ganz schwarzen Augen. Sie war erst dreiunddreißig Jahre alt und schon seit fünf Jahren Witwe. Ihre vierzehnjährige Tochter litt an einer Lähmung der Beine. Das arme Mädchen konnte seit einem halben Jahr nicht gehen und mußte auf einem bequemen Rollstuhl gefahren werden. Sie hatte ein entzückendes Gesichtchen, das zwar infolge der Krankheit etwas schmal, aber trotzdem sehr lustig war. In ihren großen dunklen Augen mit den langen Wimpern lag etwas Schelmisches. Die Mutter hatte schon seit dem Frühjahr die Absicht, sie ins Ausland zu bringen, doch hatte die Verwaltung des Gutes sie aufgehalten. Etwa eine Woche hielten sie sich schon in unserer Stadt auf, mehr in geschäftlichen Angelegenheiten als zu einer Pilgerfahrt, und schon einmal, vor drei Tagen, hatten sie den Starez besucht. Jetzt waren sie plötzlich wiedergekommen, obgleich sie wußten, daß der Starez kaum noch jemand empfangen konnte, hatten sie inständig das Glück erfleht, »den großen Heilbringer sehen zu dürfen«. Während sie auf den Starez warteten, saß die Mama neben dem Rollstuhl der Tochter, und zwei Schritte entfernt stand ein alter Mönch, der aus einem fernen, wenig bekannten Kloster im Norden gekommen war. Er wollte sich gleichfalls vom Starez segnen lassen.
Als der Starez auf der Galerie erschien, schritt er an allen eben erwähnten Personen vorbei und ging zunächst zum einfachen Volk. Die Menge drängte zu den drei Stufen, die auf die niedrig gelegene Galerie führten. Der Starez trat auf die oberste Stufe, legte das Schultertuch um und