Die Totenbändiger - Band 6: Unheilige Nacht. Nadine Erdmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nadine Erdmann
Издательство: Bookwire
Серия: Die Totenbändiger
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958343887
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sollten, sich eigenständig in Sicherheit zu bringen.«

      Connor war froh, dass Gabriel und Sky seine Worte nicht hören konnten. Doch um hilfreiche Informationen zu bekommen, war ihm gerade so gut wie jedes Mittel recht. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten und wenn Topher und Emmett Cam irgendwo im Freien gelassen hatten, wurde es langsam wirklich gefährlich.

      Die beiden Banks tauschten einen Blick und Emmetts Mutter nestelte wieder an ihrer Kette herum.

      »Unser Sohn ist nicht dumm«, entgegnete Mr Banks schroff. »Wenn er diesem Totenbändiger eine Lektion erteilt hat, dann hat er sich dabei ganz sicher nicht selbst in Gefahr gebracht.«

      »Nein, ganz bestimmt nicht«, stimmte Emmetts Mutter ihrem Mann sofort zu. »Sie haben diesem Jungen sicher nur einen Denkzettel für den Ärger verpasst, den er ständig macht. Emmett ist ein guter Junge und immer sehr verantwortungsbewusst, deshalb ist er ganz bestimmt in Sicherheit. Einer seiner Freunde gibt heute eine Übernachtungsparty.« Sie lächelte verkrampft und warf erneut einen ängstlichen Blick in ihre Nachbarschaft. »Wie Jugendliche halt so sind. Sie gehen mit den Gefahren der Unheiligen Nächte auf ihre ganz eigene Art um. Und das ist auch gut so.«

      »Natürlich«, nickte Thad. »Können Sie uns den Namen und die Adresse des Freundes nennen, bei dem diese Party stattfindet? Auch wenn die Jugendlichen dort gewiss alle genauso verantwortungsbewusst sind wie Ihr Sohn, würden wir gerne einmal nachsehen, ob die Kinder dort wirklich sicher angekommen und nicht noch draußen unterwegs sind.«

      »Ich glaube, er heißt Stephen«, sagte Mrs Banks nach kurzem Überlegen. »Aber seinen Nachnamen oder die Adresse kenne ich leider nicht.« Sie lächelte entschuldigend. »Emmett ist schon fast erwachsen und er mag es nicht, wenn man ihm zu viele Fragen stellt. Persönlicher Freiraum ist den jungen Leuten heute sehr wichtig und wir als fortschrittlich denkende Eltern respektieren das natürlich.«

      Fortschrittlich denkend – ja klar! Connor schnaubte innerlich.

      »Das ist sehr löblich«, heuchelte Thad. »Danke für die Auskunft.«

      Mrs Banks nickte knapp und wich ins Haus zurück, offensichtlich erleichtert, dass sich das Gespräch dem Ende zuneigte und sie sich nicht länger den Gefahren der offenen Haustür ausliefern musste.

      »Emmett ist ein guter Junge«, stellte Mr Banks noch einmal klar. »Sollte dieser Totenbändiger oder seine Eltern ihm Ärger machen, kümmert sich unser Anwalt darum.«

      »Natürlich.« Connor riss sich zusammen und legte den gebührenden Ernst in seine Stimme. Sie hatten bekommen, was sie wollten. Das war es, was zählte. »Wir wünschen Ihnen eine sichere Unheilige Nacht.«

      »Danke. Die wünschen wir Ihnen auch.« Mit einem letzten nervösen Lächeln schloss Mrs Banks hastig die Tür.

      Thad und Connor wandten sich um und eilten über den Weg zurück zu den Wagen.

      »Kannst du mit dem Namen Stephen etwas anfangen?«, fragte Thad. »Sonst fordere ich eine Namensliste der Schüler der Ravencourt an.«

      »Ich glaube, Jules kennt ihn. Fragen wir ihn zuerst.«

      Thad stöhnte. »Sicher, dass das die beste Idee ist?«

      »Nein. Aber es ist mit Sicherheit die schnellste.«

      Am Waldrand hatten sich graue Schwaden gebildet, die träge zwischen Büschen und Unterholz hervorwaberten. Nervös kniff Cam die Augen zusammen und versuchte in der zunehmenden Dunkelheit mehr zu erkennen.

      Waren das die ersten Schemen der Repeater?

      Oder bildete sich in der kühlen feuchten Luft bloß Nebelbänke?

      Verbissen zerrte er an den Kabelbindern, die ihn noch immer an den Stuhl fesselten, doch er merkte, wie ihm das Scheuern und Reißen immer schwerer fiel. Seine Arme schmerzten, die aufgeschürften Handgelenke brannten wie Feuer und seine Hände fühlten sich taub an. Trotzdem machte er unermüdlich weiter, weil Aufgeben einfach nicht infrage kam. Außerdem halfen Anstrengung und Bewegung gegen die verdammte Kälte.

      Plötzlich wurde es rechts von ihm am Rande der Lichtung heller. Dort, wo einst ein breiter Weg in den Wald geführt hatte, erschienen grau schimmernde Gestalten, die aus den Dunstschwaden zwischen den Büschen und Bäumen zusammenzufließen schienen.

      Sofort hielt Cam inne und spürte, wie die Atmosphäre sich veränderte. Knisternde Kälte kroch aus der Richtung der Geister über die Lichtung. Sie legte sich über Gras und Unkraut, überzog sie mit einer feinen weißen Frostschicht und ließ alles um Cam herum erstarren. Sein Atem kondensierte zu weißem Dunst, als er erschrocken auf das unheimliche Schauspiel am Waldrand starrte.

      Repeater waren die einzigen Geister, die mit den Menschen, aus denen sie entstanden waren, verbunden blieben. Soweit Forscher es bisher hatten herausfinden können, fehlte ihnen zwar das Bewusstsein für ihr einstiges Ich, doch sie bildeten als Geister ihr früheres Äußeres perfekt nach und durchliefen Nacht für Nacht mehrfach den Moment, der zu ihrer Selbsttötung geführt hatte.

      Die Repeater des Tumbleweed Parks waren gute zwanzig Meter von Cam entfernt und schienen sich am Rande der Lichtung zu versammeln. Cam erkannte Frauen und Männer, alt und jung. Die Nebelgestalten trugen lange fließende Gewänder wie Kutten mit weiten Ärmeln und einer Kordel als Gürtel. Jedes Detail war erkennbar: Falten, die der Stoff warf, die gedrehten Bänder der Kordel, nackte Füße in Riemensandalen, die unter dem Saum der Kutten hervorschauten, als die Gruppe sich einer gruseligen Prozession gleich in Bewegung setzte und auf ihn zu kam.

      Cam schauderte.

      Je näher sie kamen desto deutlicher erkannte er ihre Gesichter. Markante und feine Züge, Bärte, Falten – alles aus gräulichem, leicht durchscheinendem Nebel und doch so detailreich, so individuell, so echt.

      Cam musste schlucken. Es war das erste Mal, dass er Repeater in natura sah, und ihr Anblick … Er spürte eine seltsame Vertrautheit, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Bei anderen Geistern fiel es leicht, sie als Seelenlose zu sehen und zu vergessen, dass sie aus Menschen entstanden waren. Sie zu vernichten, kostete keine große Überwindung. Doch die Repeater, die langsam über den überwucherten Weg auf den steinernen Festbanketttisch zukamen, wirkten so – so menschlich. Fast, als wären sie noch lebendig. Cam konnte sogar Emotionen in ihren Gesichtern lesen: Vorfreude, Entschlossenheit, manche wirkten seltsam entrückt, als wären sie gedanklich schon in einer besseren Welt, und allen war ein heller Glanz in den Augen gemein, der sie silbrig funkeln ließ.

      Wieder lief Cam ein eisiger Schauer über den Rücken.

      Das hier war definitiv das Unheimlichste an Geistern, das er je gesehen hatte.

      Oder zumindest das Unheimlichste, an das er sich erinnern konnte.

      Er konzentrierte sich auf den Repeater, der die Gruppe anführte. Er trug als Einziger eine Kapuze, hielt die Arme verschränkt vor seiner Mitte und hatte die Hände in den weiten Ärmeln seiner Kutte verborgen. Der Mann war groß und stämmig und unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze erkannte Cam einen Vollbart. Rechts und links an seinen Hüften hingen zwei prallgefüllte runde Beutel, die an die Kordel seiner Kutte geknotet waren. Er führte seine Anhänger direkt auf den Tisch zu, an dessen Stirnseite Cam gefesselt saß.

      Die knisternde Kälte, die die Geister verströmten, hatte sich mittlerweile über die komplette Lichtung gelegt und die glitzernden weißen Frostkristalle ließen sie wie eine unwirkliche Winterlandschaft erscheinen.

      Es war totenstill.

      Repeater gaben keine Laute von sich.

      Cam hörte nur das Rauschen seines Blutes in seinen Ohren und spürte, wie sein Herz gegen seine Rippen schlug.

      Vielleicht bemerkten sie ihn nicht, wenn er sich völlig ruhig verhielt?