Die Forsyte Saga. John Galsworthy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: John Galsworthy
Издательство: Bookwire
Серия: Forsyte
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958131217
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      Als mit einigen Jahren Abstand Älteste der Forsytes kam ihr eine besondere Stellung unter ihnen zu. Opportunisten und Egoisten allesamt, wenn auch in der Tat nicht mehr als ihre Mitmenschen, wurden sie vor ihrer unbestechlichen Persönlichkeit kleinmütig, und was sollten sie anderes tun, als ihr aus dem Weg zu gehen, wenn die Möglichkeit allzu verlockend war!

      James schlang seine langen, dünnen Beine umeinander und setzte fort: »Jolyon wird wie immer seinen Willen bekommen. Er hat ja keine Kinder.« Dann hielt er inne, denn ihm kam, dass es da ja noch den Sohn des alten Jolyon gab, den jungen Jolyon, Junes Vater, der so ein Durcheinander verursacht und sich selbst ruiniert hatte, als er seine Frau und sein Kind verließ, um mit dieser ausländischen Gouvernante durchzubrennen. »Na ja«, fuhr er hastig fort, »wenn er das alles so machen will, dann wird er es sich wohl auch leisten können, schätze ich. Was will er ihr denn geben? Ich schätze mal, tausend pro Jahr, er hat ja sonst niemanden, dem er sein Geld geben kann.«

      Er streckte seine Hand einem eleganten, glattrasierten Mann mit kaum noch Haaren auf dem Kopf, einer langen, krummen Nase, vollen Lippen und kalten, grauen Augen unter eckigen Brauen entgegen.

      »Nick«, nuschelte er, »und, wie geht’s dir?«

      Mit seiner vogelartigen Schnelligkeit und dem Blick eines neunmalklugen Schuljungen – er hatte, alles natürlich ganz legal, ein großes Vermögen mit den von ihm geleiteten Firmen gemacht – berührte Nicholas Forsyte die ihm entgegengestreckte kalte Hand kurz mit seinen noch kälteren Fingern, um sie sogleich hastig wieder zurückzuziehen.

      »Schlecht«, sagte er verdrossen dreinblickend. »Schon die ­ganze Woche. Kann nachts nicht schlafen. Der Arzt weiß auch nicht, woranʹs liegt. Er ist ein schlaues Kerlchen, sonst wäre er ja nicht mein Arzt, aber ich krieg nichts aus ihm raus außer Rechnungen.«

      »Ärzte!«, fiel ihm James ins Wort: »Ich habe schon alle Ärzte Londons für den einen oder anderen von uns durchprobiert. Die taugen doch alle nichts, die erzählen dir nur sonst was. Wie jetzt bei Swithin. Was haben sie ihm denn schon gebracht? Schau ihn dir an, er ist dicker als je zuvor, monströs. Sie bekommen sein Gewicht einfach nicht runter. Sieh ihn dir doch an!«

      Swithin Forsyte, groß und breit wie ein Schrank, mit einer Brust wie die einer Kropftaube, aufgeplustert in seinen hellen Westen, kam auf sie zu stolziert.

      »Na, wie geht’s?«, fragte er in seiner affektierten, leicht herablassenden Art, wobei er seine Worte mit sehr viel Luft herausstieß, als ob er sie gar nicht aus der Obhut seiner Brust lassen wollte. »Wie geht’s?«

      Die Mienen der Brüder verfinsterten sich etwas, als sie die beiden anderen ansahen, denn sie wussten aus Erfahrung, dass sie versuchen würden, die Leiden des anderen zu übertrumpfen.

      »Wir haben gerade darüber geredet«, sagte James, »dass du kein bisschen schlanker wirst.«

      Swithins helle runde Augen quollen hervor, so sehr strengte ihn das Hören an.

      »Schlanker? Ich bin gut in Form«, sagte er, sich etwas nach vorne beugend. »Nicht so eine dürre Bohnenstange wie du!«

      Aus Angst, an der Breite seiner Brust seine Haltung einzubüßen, lehnte er sich jedoch wieder zurück in eine bewegungslose Pose, denn nichts ging ihm über ein distinguiertes Erscheinungsbild.

      Tante Ann blickte mit ihren alten Augen vom einem zum anderen. Ihr Blick war nachsichtig und streng zugleich. Die drei Brüder blickten daraufhin Ann an. Sie wurde langsam tatterig. Eine wundervolle Frau! Sie war locker sechsundachtzig, konnte gut noch zehn weitere Jahre leben, und sie war nie kräftig gewesen. Die Zwillinge Swithin und James waren erst fünfundsiebzig, Nicholas mit um die siebzig das reinste Baby. Sie alle waren kräftig, und was sich daraus für sie schlussfolgern ließ, war beruhigend. Von allen Formen des Besitzes war es die eigene Gesundheit, um die sie sich von Natur aus am meisten sorgten.

      »Mir geht es auch gut so weit«, redete James weiter, »nur mit meinen Nerven stimmt was nicht. Die kleinste Kleinigkeit macht mir schwer zu schaffen. Ich werde auf Kur nach Bath müssen.«

      »Bath!«, sagte Nicholas. »Ich habe es mit Harrogate versucht. Das taugt nichts. Ich will Meeresluft. Es geht nichts über Yarmouth. Wenn ich da bin, schlafe ich …«

      »Meine Leber macht große Probleme«, unterbrach ihn Swithin langsam. »Habe schlimme Schmerzen hier«, und er legte seine Hand rechts auf seinen Bauch.

      »Mangel an Bewegung«, murmelte James und blickte auf die Porzellanschale. Schnell fügte er hinzu: »Mir tut’s da auch weh.«

      Swithin wurde rot, sein altes Gesicht sah einem Puter ähnlich.

      »Bewegung!«, schnaubte er. »Davon habe ich genug. Ich nehme im Klub nie den Aufzug.«

      »Das wusste ich nicht«, beeilte sich James zu sagen. »Ich weiß nichts von irgendwem. Man sagt mir ja nichts …«

      Swithin fixierte ihn mit seinem Blick: »Was machst du denn gegen den Schmerz?«

      James’ Miene hellte sich auf. »Ich nehme eine Mischung aus …«

      »Guten Tag, Onkel.«

      June stand vor ihm mit ausgestreckter Hand, ihr kleines Gesicht von ihrer geringen Größe zu ihm hinaufgestreckt.

      James’ Miene verdunkelte sich wieder.

      »Guten Tag«, sagte er, nachdenklich zu ihr hinunterblickend. »Du gehst also morgen nach Wales, um die Tanten deines jungen Mannes zu besuchen? Da werdet ihr viel Regen haben. Das ist kein echtes altes Worcester-Porzellan.« Er tippte auf die Schale. »Das Set, das ich deiner Mutter zur Hochzeit geschenkt habe, das war echt.«

      June schüttelte ihren drei Großonkeln der Reihe nach die Hand und drehte sich dann zu Tante Ann. Ein sehr sanfter Ausdruck hatte sich auf das Gesicht der alten Dame gelegt. Sie küsste das Mädchen zitternd vor Inbrunst auf die Wange.

      »Na, meine Liebe«, sagte sie, »da gehst du also für einen ganzen Monat weg?«

      Das Mädchen ging weiter und Tante Ann blickte ihrer schmalen, kleinen Gestalt nach. Die runden, stahlgrauen Augen der alten Dame, über die sich langsam ein Film wie bei einem Vogel zu legen begann, folgten ihr wehmütig durch die geschäftige Menge, denn man begann, sich zu verabschieden. Und ihre Fingerspitzen, die immerzu gegeneinanderpressten, waren wieder damit beschäftigt, ihre Willenskraft zu stärken gegen jenen unvermeidlichen letzten Abschied ihrer selbst.

      Ja, dachte sie, alle sind sehr freundlich gewesen. Eine ganze Menge Leute sind gekommen, um ihr zu gratulieren. Sie sollte sehr glücklich sein.

      Von der Gruppe von Menschen, die sich bei der Tür drängte, der gutgekleideten Gruppe, bestehend aus Anwalts- und Arztfamilien, Börsianern und all den anderen Berufsgruppen der gehobenen Mittelschicht, waren nur etwa zwanzig Prozent Forsytes. Doch für Tante Ann schienen sie alle Forsytes zu sein, sie sah nur ihr eigen Fleisch und Blut – und sicherlich bestand wirklich kein großer Unterschied. Das hier war ihre Welt, ihre Familie, für sie gab es nichts anderes, hatte es vielleicht nie etwas anderes gegeben. All ihre kleinen Geheimnisse, ihre Krankheiten, Verlobungen und Hochzeiten, wie sie vorankamen und ob sie Geld verdienten – all das war ihr Eigentum, das, was ihr Freude bereitete, ihr Leben. Ansonsten hatte sie nur eine sehr vage, nebulöse Vorstellung von den unbedeutenden Dingen und Menschen, die es außerhalb dieser Welt noch gab. Das alles würde sie aufgeben müssen, wenn ihre Zeit zu sterben gekommen war. Das, was ihr diese Bedeutung gab, dieses geheime Wertgefühl ihrer selbst, ohne das keiner von uns leben kann. Und daran klammerte sie sich voller Wehmut, mit einer Gier, die jeden Tag größer wurde! Wenn ihr auch das Leben entgleiten sollte, das würde sie sich bis zum Ende bewahren.

      Sie dachte an Junes Vater, den jungen Jolyon, der mit diesem ausländischen Mädchen durchgebrannt war. Was für ein schwerer Schlag für seinen Vater und alle anderen! So ein vielversprechender junger Mann! Ein schwerer Schlag, auch wenn es, glücklicherweise, keinen öffentlichen Skandal gegeben hatte, da Jos Frau auf eine Scheidung verzichtet hatte. War das lange her! Und nach dem Tod von Junes Mutter, vor sechs Jahren, hatte Jo diese Frau geheiratet, und jetzt, so hatte sie gehört, hatten sie zwei Kinder. Doch er