Cairo weiß, wie es weitergehen wird. Nach zwei weiteren Aufforderungen wird die Straße geräumt werden. Vielleicht gibt es als Goodwill noch eine vierte Aufforderung, aber mehr nicht. Einige der Blockierer werden nach der zweiten die Straße verlassen, andere werden sich wegtragen lassen, noch andere werden sich wehren. Wie es in einer halben Stunde aussehen wird, kann niemand vorhersagen.
»Kommt, setzt euch.«
Isa und Petra setzen sich zu ihren Freunden. Sie haken sich unter, sie werden weiter blockieren, sie fallen ein in die lautstarken Sprechchöre der Menschen um sie herum.
Nachdem auch die dritte Aufforderung aus dem Polizeilautsprecher einen Großteil der Menge nicht beeindruckt hat, rückt die Polizeikette vor. Vom Straßenrand außerhalb der Blockade werden Böller auf die Polizisten geworfen. Die Wasserwerfer schalten das Wasser ein, richten ihren harten Strahl auf die Menschen am Straßenrand, aber auch auf die auf dem Boden Sitzenden. Einige trotzen dem enormen Druck, andere springen auf und flüchten.
Die Polizisten beginnen zu laufen und vertreiben die Menschen von der Straße. Wer nicht aufsteht, wird unsanft weggetragen oder weggeschleift. Blaulicht zuckt, Martinshörner übertönen sich gegenseitig.
Cairo und seine Freunde springen auf, rennen los, schließen sich dem Pulk der Flüchtenden an. Zu spät, sie kommen nicht weit. Aus einer Seitenstraße rückt eine weitere Hundertschaft an und schneidet ihren Fluchtweg ab. Sie müssen in eine andere Richtung ausweichen.
Sven stürzt. Cairo versucht, ihm aufzuhelfen. Ein Polizist schlägt auf seinen Nacken. Cairo wird von Sven weggedrängt und flüchtet zusammen mit seinen Freunden.
Einige hundert Meter entfernt, am Heiligengeistfeld, bleiben sie außer Atem stehen. Hier fühlen sie sich sicher, Polizei ist nicht zu sehen. Niemandem ist etwas Ernsthaftes passiert, nur Sven fehlt.
»Ob sie ihn festgenommen haben?«, sorgt sich Isa.
»Wehe, wenn ihm etwas passiert ist.«
Hakim ist wütend.
***
Stunden vergehen, und Sven bleibt unauffindbar. Der Ermittlungsausschuss der Protestler, ein Zusammenschluss ehrenamtlich arbeitender Rechtsanwälte, auch Legal Team genannt, weiß nichts über seinen Verbleib. Dort hätte er sich nach einer Festnahme melden sollen, so haben sie es abgesprochen; und Isa hat gesehen, wie Sven sich die entsprechende Telefonnummer auf den linken Unterarm schrieb.
Jetzt wischt sie lustlos über das Display ihres Smartphones und lässt Facebook-Posts an sich vorbeiziehen, während Cairo nach Tweets auf Twitter sucht, um neuste Nachrichten von dem Geschehen in der Stadt zu bekommen.
»Langsam mache ich mir Sorgen.«
Isa wickelt eine Strähne ihres schwarzen Haars um ihren linken Zeigefinger. Wie so oft, wenn sie unruhig ist. An ihrem in die Ferne schweifenden Blick erkennt Cairo, dass es ihr ernst ist.
»Vielleicht lassen sie ihn nicht telefonieren. Das gibt es manchmal.«
»Und wenn etwas Schlimmes passiert ist?«
»Mensch, Isa.« Cairo nimmt sie in den Arm, zieht sie an sich und küsst ihre Stirn. »Mal doch nicht den Teufel an die Wand.«
Ihre beginnende Zärtlichkeit stört ein Gitarrenakkord der Goldenen Zitronen, den Cairos Handy in den Raum schleudert. Er löst sich von Isa, nimmt das Gespräch an und nennt lautstark seinen Namen. Wenig später verstummt er, sein Gesicht wird bleich. Bevor er auflegt, stammelt er Unverständliches.
»Was ist los?«
Isa blickt ihn irritiert an.
»Das war Svens Mutter. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert.«
»Warum?«
»Er ist gestürzt, und in der Panik sind andere über ihn hinweggetrampelt.«
»Und, ist es schlimm?«
»Er liegt im Koma. Die Ärzte wissen nicht, wie lange das dauern wird. Und auch nicht, ob er jemals wieder aufwachen wird.«
Ein Tag vor dem Gipfel, 11:15 Uhr
Hauptkommissar Werner Jensen blättert lustlos in den verknitterten Dokumenten einer Akte. Gewöhnlich bestimmen digitale Akten sein Tagesgeschäft, klickt er sich mit der Maus durch Ermittlungsergebnisse und nutzt die automatisierten Analysefunktionen der Polizeisoftware auf seinem Computer. Doch eingescannte Dokumente vermitteln ihm nicht den taktilen Reiz einer papierenen Akte.
Er nimmt gern Papier in die Hand, riecht die leicht würzige Muffigkeit der Vergangenheit und hofft, dass zusammen mit dem Geruch ein Körnchen verborgener Wahrheit aus den Dokumenten zu ihm hinüberströmt.
Jensen ist mit einem wieder aufgerollten Fall beschäftigt, einem Altfall. Zwölf Jahre ist es her, dass ein Obdachloser in der Nähe des Hamburger Rathausmarktes ermordet wurde. Der Täter konnte nicht ermittelt werden und läuft immer noch frei herum.
Der Hauptkommissar krault gedankenverloren seinen Vollbart, für den es an der Zeit ist, gestutzt zu werden.
Seine Kolleginnen Wiebke Maurer und Conny Schrader sind vor drei Tagen abgezogen worden. Sie stehen zusammen mit über dreißigtausend anderen Polizisten aus dem ganzen Bundesgebiet und dem Ausland Tag und Nacht auf der Straße. Sie sollen mit dafür sorgen, dass der Gipfel der zwanzig mächtigsten Regierungschefs reibungslos und ohne Störungen verläuft.
»Welch ein Wahnsinn«, denkt Jensen. »Wie kann man nur ein solches Ereignis inmitten einer Großstadt stattfinden lassen? Und dann noch am Rande eines Viertels, das nicht nur als Partyviertel, sondern auch als Hochburg alternativer Ideen und Proteste gilt.«
Schon zu Ostern, vor knapp einhundert Tagen, wurden Beamte aus den Kommissariaten abgezogen und zu Alarmhundertschaften zusammengefasst, um Osterfeuer zu bewachen, auf der Reeperbahn zu patrouillieren, den Stall der Polizeipferde oder die Polizeiboote auf der Außenalster zu schützen. Selbst Drogenspürhund Trude muss seit Wochen Wache schieben, statt Drogendealer zu enttarnen oder im Hafen Schmuggelgut aufzuspüren.
Jensen ist froh, nicht auf die Straße abkommandiert worden zu sein. Sicher hätte er mit seinem in der letzten Zeit umfangreicher gewordenen Bauch Demonstranten stoppen können. Aber das hat er niemand vorgeschlagen. Sein Alter war es nicht, was ihn vor dem Außendienst gerettet hat. Andere Kollegen an die fünfzig müssen auch nach draußen.
Doch sein Innendienstdasein hat eine gewaltige Schattenseite: Die nicht in Alarmhundertschaften eingesetzten Beamten müssen Zwölfstundenschichten schieben. Und das im Sommer. Er würde lieber seine Abende mit einem Glas kühlen Weißweins im Garten genießen und in die Farben des Sonnenuntergangs schauen.
Jensen blickt zum wiederholten Mal rechts unten auf seinen Bildschirm, wo ein Newsticker läuft und im Minutentakt Meldungen ausspuckt. Er möchte wissen, wie es seinen Kolleginnen auf der Straße ergeht und wie die Stadt die Gipfeltage übersteht.
Die Nachrichten sind wie erwartet: Straßentheater, Demonstrationen, Blockaden, Verkehrschaos, Straßensperrungen. Seit Tagen nehmen die Anzahl der Aktionen, die Anzahl der Teilnehmer daran und die polizeilichen Maßnahmen zu.
Er wendet sich wieder dem Altfall in der muffigen Akte zu. Allen Spuren ist nachgegangen worden, und einen neuen Anhaltspunkt hat er nicht gefunden. Er beschließt, ein weiteres Mal die Zeugenaussagen durchzugehen. Vielleicht findet er das eine Wort, an dem etwas nicht stimmt und das den Weg auf eine bisher übersehene Spur weist. Aber wo in dieser verdammten Akte hat sich dieses Wort versteckt?
Wieder verlangt der Nachrichten ausspuckende Newsticker seine Aufmerksamkeit und entzieht diese dem hoffnungslosen Fall. Die Worte auf dem Bildschirm lassen Jensen erstarren. »Eilmeldung: Polizistin in Hamburg auf offener Straße erschossen.«
Ein Tag vor dem Gipfel, 11:15 Uhr
An der Straßenecke unweit des Polizeikommissariats 17 ist es ruhig. Es sind noch achthundert Meter bis zu den Absperrungen rund um die Messehallen. Hier ist nur