Er nimmt das Blatt in die Hand und schaut auf einen markierten Artikel. Ein namentlich nicht genannter Kommentator beschäftigt sich mit dem Tod von Sven, dem Demonstranten, der bei einem Polizeieinsatz überrannt und so schwer verletzt wurde, dass er nach kurzer Zeit im Koma starb. Der Schreiber nennt dessen Tod einen staatlichen Mord und fordert Ermittlungen gegen die eingesetzten Beamten.
Jensen vergewissert sich noch einmal, wann die Zeitung erschienen ist. Es ist nicht die Ausgabe von heute, nicht die von gestern, es ist tatsächlich die von vor zwei Tagen. Eine neuere oder ältere Ausgabe liegt nirgends herum. Warum hat Conny Schrader diese eine Zeitung aufbewahrt, sie auf dem Küchentisch liegen lassen und den Artikel markiert?
Er wendet sich dem Wohnzimmer zu, erkennt am Bücherregal, dass die Tote nicht nur E-Books gelesen hat, und denkt kurz über ihren Lesegeschmack nach. Krimis, die in Hamburg spielen, liest seine Frau Verena auch.
Zwischen zwei angesagten Ratgeberbüchern findet er ein Heftchen mit Telefonnummern. Wer notiert sich in der heutigen Zeit noch Telefonnummern auf Papier? Speicherte Conny die nicht auf ihrem Handy?
Jensen schlägt das Heftchen auf und wird schon auf der ersten Seite überrascht. Aasaf liest er und erinnert sich an einen zurückliegenden Fall. Dem Mann war er begegnet, als der Sprecher der Lampedusagruppe ermordet wurde. Woher hat Conny seine Telefonnummer? Hatten sie Kontakt miteinander?
Wiebke Maurer kommt ins Wohnzimmer und unterbricht seine Überlegungen.
»Conny hat zwar alleine gewohnt, aber im Bad gibt es zwei Zahnbürsten und Männerutensilien.«
»Warum soll sie keinen Freund gehabt haben?«
»Na klar. Aber das wussten wir nicht. Oder hat sie dir gegenüber Derartiges erwähnt?«
Ein Tag vor dem Gipfel, 16:00 Uhr
Die linke Wohnungstür im Parterre eines Klinkerbaus nahe der U-Bahn Schlump öffnet sich, ein Mittdreißiger begrüßt Cairo und Isa freundlich und lädt sie ein hineinzukommen.
Der sieht nicht aus wie ein Rechtsanwalt, denkt Cairo. Aber wie muss jemand aussehen, um als Rechtsanwalt durchzugehen? Er findet keine Antwort auf seine Frage, stößt Isa an und betritt nach ihr die Kanzlei.
Kai Nissen zeigt auf eine Besucherecke, auf deren niedrigem Tisch eine Flasche Mineralwasser und drei Gläser drapiert sind.
»Setzt euch.«
»Danke, dass wir kommen durften.«
Cairo duzt den Rechtsanwalt ungefragt. Sein Freund, der ihm diesen empfohlen hat, meinte, der ist einer von uns. Vielleicht entspricht Kai Nissens Aussehen deshalb nicht Cairos unklaren Vorstellungen über die für Rechtsanwälte geltende Kleiderordnung.
Sich gegenseitig ins Wort fallend, sich ergänzend und mit zunehmender Aufgeregtheit erzählen Cairo und Isa von den Umständen, unter denen Sven ums Leben gekommen ist.
»Wir wollen, dass der Schuldige bestraft wird, dass wenigstens versucht wird herauszufinden, wer ihn überrannt hat. Und der Einsatzleiter, der darf nicht ungeschoren davonkommen. Der hat den Befehl gegeben.«
»Ich habe gehört, die Staatsanwaltschaft geht von einem Unfall ohne Fremdverschulden aus und ermittelt deswegen nicht. Da ist schwer gegen anzukommen.«
»Ej, da kann man jemanden umbringen, und dann ist es schwer, etwas zu machen?«
Isa spricht lauter als sonst. Aber so schnell wie immer.
»In Hamburg gibt es das D.I.E.«
»Das was?«
»Das Dezernat Interne Ermittlungen. Es ist direkt dem Staatsrat der Behörde für Inneres unterstellt. Zu seiner fachlichen Zuständigkeit gehört auch die Beratung der Bürger in Fällen wie diesem. An die können wir uns wenden.«
»Wir wollen keine Beratung, wir wollen Gerechtigkeit für Sven.«
Cairo beginnt zu zweifeln, ob die Empfehlung Kai Nissen eine gute war.
»Schon klar, bleibt ruhig. Mit dem Recht ist das so eine Sache. Ihr kennt das doch, das mit recht haben und recht bekommen.«
»Ich glaube bald an gar nichts mehr«, wirft Isa resignierend ein.
»Ich spreche morgen mit dem Dezernat. Vielleicht überzeugen wir sie mit euren Schilderungen und denen eurer Freunde, dass eine Ermittlung aufgenommen werden muss.«
»Die gehören doch zur Innenbehörde, hast du uns erklärt. Und die hat gegenüber der Presse erklärt, dass der Polizeieinsatz rechtens war, dass die eingesetzten Polizisten sich nichts vorzuwerfen und nur das Einsatzkonzept umgesetzt haben. Meinst du, da wird dieses D.I.E., oder wie das heißt, irgendetwas unternehmen?«
»Wir versuchen es. Etwas anderes, was wir machen können, ist, eine Anzeige gegen den Einsatzleiter und gegen unbekannt wegen Beihilfe zur fahrlässigen Tötung zu stellen.«
»Fahrlässige Tötung? Beihilfe? Ich glaube es nicht! Das war Mord, ein eiskalter Mord an unserem Freund!«
»Ich verstehe, dass du das so siehst. Aber Mord beinhaltet den Vorsatz der Tötung, seine Verwerflichkeit und Heimtücke. Das ist juristisch gesehen in diesem Fall nicht gegeben.«
»Der Tod unterschiedlicher Menschen wird verschieden beurteilt?«, ärgert sich Isa.
»Das Wichtigste ist doch, dass der Verantwortliche zu seiner Verantwortung stehen muss. Im Recht geht es nicht um Rache. Und das Verfahren machen wir so öffentlich wie möglich.« Kai Nissen wendet sich direkt Cairo zu.
»Du hast doch die besten Verbindungen zur Stadtrundschau.«
Ein Tag vor dem Gipfel, 17:00 Uhr
Nachdenklich hämmert Nele auf die Buchstaben der Computertastatur, bis ein sanfter Klingelton sie aus ihrer Tätigkeit herausreißt. Ihr Blick huscht über das Handydisplay: Tjark. Der darf sie stören.
Jahrelang hat er in einer südlich gelegenen Stadt gearbeitet. Vor zwei Monaten ist er nach langen Diskussionen mit Nele zurück ins Viertel gezogen. Es war nicht leicht, in einer ehemaligen Industriestadt, in der nun Dienstleister und New Economy die wichtigsten Betriebe stellen, eine Stelle als Produktionsingenieur zu finden.
Seit seinem Wiedereinzug in ihre gemeinsame Wohnung üben Nele und Tjark erneut das Zusammenwohnen. Bisher nicht sehr erfolgreich, und gefühlt sehen sie sich nicht öfter als während ihrer Wochenendbeziehung.
»Hi, du«, begrüßt Nele ihn.
»Wie sieht es aus bei dir? Musst du dir wieder die Nacht um die Ohren schlagen?«
»Kannst du dir doch denken. Bisher ist alles friedlich geblieben, selbst auf dem Rave gegen den Gipfel mit mehr als zehntausend Leuten. Aber für heute Abend ist die Demo Welcome to hell angekündigt. Weißt du, eine Demo der Autonomen, für die es keine einzige Auflage gibt. So etwas gab es noch nie. Immer legt die Polizei fest, wie lang Transparente sein dürfen und so etwas. Ich glaube, die lassen sie gar nicht loslaufen und es wird knallen. Und dann ist heute auch noch eine Polizistin erschossen worden.«
»Ich habe davon gehört.«
»Willst du nur klönen oder gibt es etwas Bestimmtes?«
Nele, die eben noch mit ihrem Wortschwall eine Zusammenfassung des Tages geliefert hat, lässt Tjark ihren Zeitdruck spüren.
»Wenn du dir ein wenig Zeit nehmen kannst, dann könnten wir essen gehen. Nur mit Pizza vom Lieferservice überlebst du nicht lange.«
»Länger, als du denkst.« Nele lacht. »Denk mal an die Computerhacker. Die überleben jahrelang in dunklen Kellern ohne Tageslicht und nehmen nichts anderes als Cola und Pizza zu sich.«
»Willst du so werden wie die?«
»Natürlich nicht. Also um sieben im Morgenstern? Für ein Stündchen kann ich mich sicher loseisen.«