»Charly, ich lasse dich hier nicht alleine hocken.«
Wider Erwarten tauchte Weine rasch auf, mit Kühlbox und Kühlelementen. Er hatte die Feuerwehr informiert, die ihn mit einem der wenigen Fahrzeuge, die sich auf der Insel befanden, hergefahren hatte.
»Danke, Kollege! Ich darf Kollege sagen, wenn wir auch ganz andere Aufgabenbereiche zu bearbeiten haben?«
Bresniak schwieg und Weine nahm sein Schweigen als Zustimmung.
»Ich fahre gleich zum Flugplatz. Aus Wittmund schicken sie den Kollegen Puschkin, der die Untersuchung leiten soll. Der ist angekündigt. Sie halten sich für eine Befragung zur Verfügung?«
Bresniak grinste über den formellen Ton: »Wohin sollte ich weglaufen? Die heutige Fähre hat schon abgelegt. Ich könnte nur noch zum Festland schwimmen.«
Weine schaute ihn hilflos an. Solch einen Leichenfund, genauer Fund eines Leichenteils, hatte er noch nicht erlebt. Es sprengte alles, was er in seinem beruflichen Dasein bisher erlebt hatte, er fühlte sich überfordert und konnte der Ironie Bresniaks nicht folgen. Linkisch packte der Polizeikommissar den Arm in die Tüte. Es wollte nicht so richtig klappen. Der Arm war glitschig und alles andere als appetitlich. Er tat Bresniak leid. So half er ihm und ergänzte, die Rede von vorhin wieder aufnehmend: »Villa Charlotte bin ich untergebracht. Da erreichen Sie mich.«
»Ach, bei der Inka«, kommentierte er tonlos.
Die Kühlbox war gefüllt. Weine fuhr mit ihr zur Polizeistation, und Bresniak, den linken Fuß beschuht, den rechten nur mit einem Socken bestückt, machte sich mit Lilli – ohne Fahrrad – auf den Weg in ihr Hotel.
Kapitel 6
Die letzten Akkorde aus Franz Léhars Die lustige Witwe: Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen: Hab mich lieb! … verklangen. Das ungarische Kurorchester verbeugte sich und nahm seinen verdienten Applaus entgegen. Die Zuhörer, viele grauhaarig, erhoben sich, manche schwerfällig und nur mithilfe eines Stockes oder einer Begleitung, um sich in Richtung ihres Hotels zu begeben. Daneben junge Eltern, die ihren Sprösslingen hinterherliefen, um sie einzufangen. Auch Lilli und Bresniak hatten den Musikern gelauscht.
»Das hat meine Oma immer gesummt, und dabei ganz verklärte Augen bekommen, wenn sie dem Plattenspieler lauschte. Ich mit meinen sechs oder sieben Jahren und in Lederhose habe mich damals gefragt, was die nur hat, dass die so komisch guckt.«
»Bei diesem Gassenhauer hat Oma vielleicht ihren ersten Kuss gekriegt.«
»Wie du das sagst, so sachlich, ohne jede Romantik.«
»Na, ich bin halt aus einer anderen Zeit. Selbst die Beatles und Janis Joplin gehören vor meine Zeit. Obwohl, ich höre beide immer mal wieder.«
»Jetzt mach’ mich nicht älter, als ich bin. Ich glaube, ich brauche ein kleines Pils.« Damit wandte er sich ab. Lilli folgte ihm, und an der Ecke des Kurplatzes fanden sie direkt den Weg in die Spelunke. Der rote Backsteinbau nahm zwei Straßenzeilen ein, das Untergeschoss weiß gekalkt. Ein paar Fahrräder standen vor den verblendeten Fenstern und versprachen bereits Besucher. Drei Stufen führten zu der geöffneten Tür hinunter und luden die Gäste ein. Raucherkneipe, kein Eintritt unter 18 Jahren und keine Speisen wies ein Schild an der Tür die Besonderheit der hiesigen Kneipen aus: Hier durften sich die Wirte unter bestimmten Bedingungen Raucherkneipe nennen; hier durfte wie früher geraucht werden, und die Anwesenden mussten sich nicht mit ihren Zigaretten vor der Tür treffen. Lilli und Bresniak stiegen die drei Stunden hinab und betraten die schummerige Bar, Lilli vorneweg. Sie zog sofort alle Blicke auf sich. Es geschah nicht oft, dass eine so grazile Frau mit feenhaften Bewegungen und mit einer Ausstrahlung, die Sonne mitbrachte, in die Kneipe stolperte.
Kaum wurden die Männer gewahr, dass ihr ein Begleiter folgte, machte sich auf ihren glänzenden Augen Enttäuschung breit. Die Bar, einer Seemannskneipe nachempfunden, trug zu Recht den Namen Spelunke. Der Raum war ein schmaler Schlauch. Auf der einen Seite ein langer Tresen, dessen Bierzapfhahn zwischen dem dunklen Holz kaum hervortrat und ab und zu zischte. Vor dem dunklen Holz standen fest montierte Bänke in der Höhe von Barhockern. Ähnliche Sitzgelegenheiten mit einem schmalen Tisch, der gerade reichte, um sein Glas abzustellen, zogen sich an der Wand entlang. Hier konnten sich die Gäste auch anlehnen, was nach einigem Bier- und Schnapskonsum hilfreich sein konnte.
Ja, das sah alles so aus, dass, wenn der Abend fortgeschritten war, man mehrreihig vor dem Tresen stand und sich zuprostete. Deti, der Wirt, lud die Neuankömmlinge ein, es sich gemütlich zu machen. Lilli und Bresniak fanden einen Platz und bestellten sich ein Pils. Lilli schaute sich um. Gleich neben dem Eingang war eine Aussparung, fast ein Erker, in dem der einzige runde Tisch seinen Platz fand. Wahrscheinlich der Ort, an dem die Stammtischdiskussionen regelmäßig stattfanden, ging es ihr durch den Kopf.
Bresniak nahm sein Bier, das der Wirt ihm inzwischen mit einem Prosit vor ihn hingestellt hatte, und schlenderte den schmalen Gang entlang bis an das Ende der Bar. Dabei warf er einen Blick auf die nautischen Devotionalien, die an der Wand hingen: Kompass, Fernrohr, Barometer und ähnliche Dinge, alles aus Messing, das an eine Zeit erinnern sollte, als hier noch Seeleute lebten, oder besser gesagt deren Familien, die wochen- oder monatelang auf die Rückkehr ihrer Männer warteten. Der Raum erweiterte sich und führte links um die Ecke in einen Raum, in dem Einheimische dabei waren, an Spielautomaten ihr Glück zu versuchen. War einer der Automaten gerade nicht in Gebrauch, forderte ein Pling die Umstehenden auf, ihr Spiel erneut zu versuchen.
Deti, genauer Detlef, breitschultrig, ein ganzer Mann, der gerade so hinter seinen Tresen passte, polierte Gläser und prüfte mit seinen grauen Augen, ob auch keine Schlieren mehr den Glanz störten. Ihm schien sein Job Spaß zu machen. Er war akzeptiert bei den Einheimischen, obwohl er aus dem Münsterland stammte. Lilli beobachtete den Wirt bei seinen Aktionen. Währenddessen gesellte sich ein Mann zu ihr. Er sah aus, wie man sich Seebären vorstellt: groß, kräftig und breitschultrig. Seine weißen Haare hatte er kurz geschoren und sein Schnurrbart setzte einen harmonischen Akzent in sein sonst bronzefarbenes Gesicht. Seine Jeans und sein dunkelblaues Shirt vermischten sich mit dem Dunkel des Raumes, in den nur wenig Licht hineinschien. Die Fenster, die zwar an der Straßenfront verliefen, waren von innen verschlossen und in die Verkleidung der Inneneinrichtung integriert.
»Moin, wo kommt ihr denn her?«, begann er das Gespräch mit Lilli, die sich gerne darauf einließ, denn das war eine Möglichkeit, Inselinterna zu erfahren. Lilli schaute ihn mit ihren bernsteinfarbenen Augen an. Sie wusste, welche Wirkung sie damit beim männlichen Geschlecht erzielte. Sie erzählte, woher sie kamen und dass sie Urlaub machten – keine spektakuläre Geschichte für eine Ferieninsel.
»Sagen Sie mal, was ist denn hier auf einmal los? Es scheint, als wenn die Insulaner total aufgeregt sind. Was war das denn für eine Leiche, die die hier aus dem Wasser gefischt haben?«, fragte Lilli ihre neue Bekanntschaft.
»Jo, Deern, da kann ich dir was sagen, die erzählen hier schon, Jack the Ripper ist auf die Insel geschwappt worden.«
»Der Tote war ein Mann?«, fragte Lilli neugierig, wohlwissend, dass die Rechtsmedizin noch keine DNA nachgewiesen hatte.
»Kennen Sie nicht Jack the Ripper, der im 19. Jahrhundert in London sein Unwesen getrieben hat? Der soll seinen Wohnsitz hierher verlegt haben«, grinste der Seebär.
»Ja, doch …?«
»Das hier ist Töwerland, da passieren manchmal Dinge, die es woanders nicht gibt, und da wird geunkt, dieser Jack the Ripper sei auf die Insel gekommen und sticht Frauen ab, auf unserer Insel, wo nie etwas passiert, außer wenn sich mal einer ein paar Schnäpse zu viel hinter die Binde gekippt hat und dann eher torkelnd meint, eine Schlägerei anfangen zu müssen.«
»Dann ist es eher ein Opfer dieses Engländers? – Wo findet man diesen Jack?«, versuchte Lilli mit neugierigen Fragen den Einheimischen weitererzählen zu lassen.
»Wenn man das wüsste, hätte die Polizei hier nichts mehr zu tun.«
»Was waren das