Günter Grass: Eintagsfliegen. Gelegentliche Gedichte. Göttingen 2012: Steidl Verlag. 107 S.
Martin Walser: Muttersohn. Roman. Reinbek 2011: Rowohlt Verlag. 505 S.
Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel. Roman. Reinbek 2012: Rowohlt Verlag. 271 S.
Schneit es bald in meinem Kopf? Vom Altern in der Literatur
Auffällig viele literarische Neuerscheinungen des Herbstes 2006 beschäftigen sich mit dem Altern. »Vorherrschend« sei dieses Thema sogar, meint Volker Hage, der das Phänomen in einem Spiegel-Artikel mit der Überschrift »Club Methusalem« aufgreift. Mit Recht lobt er Silvia Bovenschens über manches Alterszipperlein angenehm hinwegtröstendes Buch Älter werden, ein schönes »Erzählmosaik aus kleinen Erinnerungen, Beobachtungen und Geschichten«, das nichts beweisen will und eben deswegen überzeugt. Nicht nur ästhetisch, sondern auch wegen seiner Ehrlichkeit gegenüber dem Prozess des Alterns, präziser: wegen seiner genauester Beobachtung und Empfindung entsprungenen, immer klug und angemessen formulierten, bisweilen auch ins Selbstironische spielenden Lakonie. Weitgehend überzeugend ist auch der neue Roman von Martin Walser, einer seiner besseren aus den letzten zwanzig Jahren: Angstblüte – was die letzte sich aufbäumende Blüte einer Pflanze meint, bevor sie endgültig zugrunde geht. Der vitale Veteran vom Bodensee, sprachlich brillant wie meistens, erfindet einen einprägsamen Romanhelden, den einundsiebzigjährigen Anlageberater Karl von Kahn, der auch im Alter seinem Wahlspruch »Bergauf beschleunigen!« treu bleiben will. Walser erzählt, reif und kunstvoll und süffig und gelegentlich auch etwas umständlich, von Kahns eifrig-verzweifelten und naturgemäß vergeblichen Bemühungen, das Altern aufzuhalten. In erster Linie geht es dabei um eine recht gnadenlose Abrechnung mit den Torheiten der Liebe, auch und gerade der körperlichen. Joni Jetter ist nicht einmal halb so alt wie Kahn, der dieser »Traumfrucht« wegen zu jedem Ehebruch bereit ist. Joni bringt den hoffnungslos Verliebten zur Raserei, einer komischen und peinlichen Altersraserei natürlich – und will doch nur sein Geld. Am Ende ist der arme Kahn sogar seine fürsorglich treue Ehefrau los, die witzigerweise (oder auch nicht) als Paartherapeutin tätig ist. Eine geradezu klassische Walser-Geschichte, nur dass eben in diesem achtzehnten Roman des Schriftstellers das Alter und seine Lächerlichkeit eindeutig die Hauptrolle spielen.
Nichts gegen Bovenschen oder Walser – beide Bücher sind oder waren zu Recht in den deutschen Bestsellerlisten. Doch ein ebenso gutes literarisches Herbstbuch über das Altern, das bisher noch nicht allzu vielen Kritikern aufgefallen ist, stammt von Hermann Kinder. Der 1944 geborene Konstanzer Germanist, als sprachgewaltiger und keineswegs nur humoristischer Schriftsteller seit jeher unterschätzt, erzählt in den sieben Kapiteln seines im »Jahrhundertsommer« 2003 spielenden »Methusalem-Romans« mit dem etwas merkwürdigen Titel Mein Melaten von einem am Bodensee vor sich hin alternden Herren. Von einem wohl immer schon durch »Lebensunzuversicht« geprägten, im nicht einmal sehr hohen Alter zusätzlich mit zahlreichen echten oder auch nur eingebildeten Kränklichkeiten geplagten »Miesepeter« – wie ihn seine Tochter Juliane einmal nannte, als sie noch mit ihm redete. Wo der Ich-Erzähler auch hinsieht – es geht »bergab«. Bei den Nachbarn fängt es an: »Vater Forell behauptete, was nicht stimmte, suchte Läden, die es seit dem Krieg nicht mehr gab, verwechselte den Arzt mit dem Postamt … Nicht ihn, sondern Frau Forell ließ ein Schlaganfall unter den Frühstückstisch rutschen.« Und Herr Forell verdämmert auch, fröhlich zumeist und zunehmend altersabwesend. Der zu Beginn des Romangeschehens noch auf einem »Amt« arbeitende, dort jedoch immer mehr Demütigungen ausgesetzte und von manchen bereits als »Kadaver« betrachtete Ich-Erzähler verfällt allmählich der »Forellschen Krankheit«. Seine geliebte Frau hat eine »Lebensstelle« in Köln gefunden, an sie klammert er sich, und so kommt es zu vielen höchst amüsant beschriebenen Reisen mit der unsäglichen, ihre lieben Kunden in immer neuen Variationen bis aufs Blut quälenden »Deutsche Bahn AG«. Man möchte ständig zitieren, so verschmitzt und hintergründig kommt Hermann Kinders beißende Kulturkritik daher. Zum Beispiel: Sein zunehmend »polymoribunder« Protagonist steigt in die Kölner Straßenbahn, vielleicht auf dem Weg nach dem früheren Leprosengelände Melaten, auf dem der imposante, große Friedhof liegt, der im Laufe des Geschehens eine immer wichtigere Rolle spielen wird. Und berichtet: »Mich bedrohte niemand, und die Zeiten waren vorbei, in denen Grauköpfe, Krummbuckel dadurch diskriminiert worden waren, dass jemand aufsprang und ihnen seinen Sitzplatz anbot. Man blieb ruhig sitzen, hatte den Nebensitz mit seinem Rucksack belegt und auf den gegenüberliegenden Sitz seine Schuhe gelegt. Ich stand schwankend.« Derart köstlich und zugleich ätzend formuliert Hermann Kinder, bei dem übrigens die Schweiz, der Kanton Thurgau zumeist, ganz gut wegkommt: »Wäre ich in Köln gestürzt, wäre ich in Hundekacke gefallen, die auf Schweizer Bürgersteigen in braune Plastiksäcke gesammelt wurde, bevor jemand in sie fallen könnte.« Manchmal scheint es, als habe Martin Walser aus Nussdorf über den See gerufen, denn »Seelenschnittwunden«, »Atemnotvertuschungsversuche«, »Wäschewaschversäumnisse« oder »Hoffnungsangewiesenheit« sind Neologismen, die man auf Anhieb eher ihm zuschreiben würde als ihrem Erfinder Hermann Kinder. Mit trauriger Komik beschreibt er, wie und weshalb ein einst als »Möglichkeitstrampolin« erlebter menschlicher Körper »vom Lust- zum Sterbequell« werden kann. Woraus sein unbeholfener und doch unruhiger, von immer mehr Lebensangst heimgesuchter Ich-Erzähler folgert: »Wenn also das Risiko des Todes bei einem versuchten Geschlechtsverkehr eingehen, dann nur mit betriebsbereitem Handy in Handweite auf dem Bettbeistelltisch, auf dem auch mein Atemspray liegen müsste.« Meisterlich geschildert werden die hoffnungslosen Zustände in manchen Kliniken, meisterlich geschildert werden absurde Erlebnisse auf Last-Minute-Städtereisen durch Europa. Und meisterlich heißt bei diesem mit Proben seiner Belesenheit und Gelehrsamkeit nicht geizenden Autor immer auch: süffisant, amüsant und zum Brüllen komisch. Leider hat Kinders wunderbarer, durchaus ernster und doch allenthalben skurriler »Methusalem-Roman« auch einige Längen, vor allem im zweiten Teil. Deshalb ist dieses empfehlenswerte Prosastück auch nur das zweitbeste neue literarische Werk über das Altern.
Das Beste hat Gerhard Köpf geschrieben, ein 1948 im Allgäu geborener, in München lebender und vor allem in den 1980er-Jahren weithin bekannter Schriftsteller, den heute nur noch einige Experten kennen – wie manch andere einst namhafte Autoren auch, wenn man einem Spiegel-Essay von Hans Christoph Buch folgen möchte. Köpfs Buch Ein alter Herr, das ein imposantes Netz literarischer Anspielungen und Zitate aufspannt, nennt sich »Novelle« und spielt in München. »Gibt es eine Stadt, in der noch mehr Angeber, Aufschneider, Poseure und Hochstapler herumlaufen als in München?« Alte Herren haben bekanntlich ihre Marotten, und wenn sie Professoren sind oder waren, wird es nicht besser. Köpfs alter Herr igelt sich quasi in seinem Wintergarten ein, hört versunken seine Musik, trinkt seinen guten Wein gern für sich allein und versucht mit wenig Erfolg, sein Leben und seine Geschichte zu ordnen. Seine Ausflüge in die Stadt und überhaupt in die Gegenwart enden alle in kleineren oder gar größeren Katastrophen. Weshalb der anfangs nur ein wenig verschrobene alte Herr noch mehr in seine Erinnerungen und Träume eintaucht – bis ihn sein Gedächtnis fast ganz im Stich lässt.
Die Zusammenfassung