Die Korrupten. Jorge Zepeda Patterson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jorge Zepeda Patterson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906903859
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langer flacher Bauch bildete das perfekte Pendant zu seinem elastischen, muskulösen Rücken. Die ausgedehnten samstäglichen Sonnenbäder hatten auf ihren Körpern einen verführerischen Bronzeschimmer hinterlassen, während Mario und Tomás nur puterrot wurden. Die Hormone wirkten sich bei ihnen ganz unterschiedlich aus: Während seine beiden Freunde von einer sinnlichen Aura umgeben zu sein schienen, die ihren Bewegungen eine natürliche Eleganz verlieh, hatte er mit einer hartnäckigen Akne und einem noch immer kindlichen Körper zu kämpfen.

      Als Tomás bei seinem Freund in der exklusiven Wohnsiedlung in Las Lomas ankam, teilte ihm Rámon, der Gärtner, mit, dass sich die anderen bereits am Pool befanden.

      Das perfekte Bild, das Amelias knapper Bikini und Jaimes gestreifte Shorts zusammen abgaben, bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Beide schienen sich in ihrem halb nackten Zustand absolut wohlzufühlen, als hätten sie die lästigen Kleider endlich hinter sich gelassen und könnten sich jetzt richtig entfalten, Amelia völlig ungezwungen, Jaime stolz und mit unverhohlenem Vergnügen. Tomás beschloss, das weite Dallas-Cowboys-T-Shirt für den Rest des Tages anzubehalten.

      »Richard Burton wird mit fortschreitendem Alter immer attraktiver«, behauptete Amelia, ohne zu ahnen, dass Jaime ihr ihre Vorliebe für ältere Männer ein Leben lang vorwerfen würde.

      »Du hast den Film doch noch gar nicht gesehen. Burton ist inzwischen alt und hässlich.«

      »Welchen Film?«, fragte Tomás anstelle einer Begrüßung.

      »1984, ich war letztes Wochenende im Kino. Der nach diesem Science-Fiction-Roman«, sagte Jaime.

      »Von George Orwell«, präzisierte Tomás. Seine Miene hellte sich augenblicklich auf, das weite T-Shirt und die improvisierten Badeshorts waren vergessen. Er hatte 1984 vor weniger als einem Monat gelesen und war immer noch beeindruckt.

      »Ja, genau. Aber der Film ist besser«, erwiderte Jaime.

      »Woher willst du das wissen? Hast du das Buch denn überhaupt gelesen?«

      »Nein, aber der Film ist sehr gut.«

      »Weißt du noch, in Englisch? Als wir Romeo und Julia durchgenommen haben? Da hieß es, dass Literaturverfilmungen zwar manchmal ziemlich gut sind, dass sie aber, wenn das Buch ein Meisterwerk ist, nie an die Romanvorlage heranreichen«, dozierte Tomás.

      »Ein Film verfügt über Schauspieler und Sound, das Buch nicht.«

      »Ein Film dauert ungefähr eineinhalb Stunden. Für ein Buch brauchst du viel länger. Wenn du 1984 liest, lebst du am Ende in der Welt des Großen Bruders.«

      »Hast du es gelesen?«, fragte Amelia.

      »Ja, vor einer Weile«, antwortete Tomás beiläufig, als wäre es nur ein Buch von Tausenden.

      »Und wovon handelt es?«

      »Von der Kontrolle der Regierung über die Bevölkerung. Der ›Große Bruder‹ ist so was wie der Präsident. Er verlangt von seinem Volk die totale Verehrung. Ein Mann aber rebelliert aus Liebe zu einer Frau, und von da an geht alles den Bach runter.«

      »Und der Roman spielt 1984? Warum das?«, fragte Amelia fasziniert.

      »Genau«, erwiderte Tomás. »Der Autor hat das Buch vor ungefähr vierzig Jahren geschrieben und sich vorgestellt, dass es in der Zukunft, also heute, so sein könnte.«

      »Na, da war dein Autor aber ganz schön auf dem Holzweg«, bemerkte Jaime spöttisch. »Miguel de la Madrid ist zwar sterbenslangweilig, aber kein bisschen wie der Große Bruder.«

      »Es geht darin ja auch nicht um Mexiko. Ich glaube, er bezieht sich auf die kommunistischen Länder«, erklärte Tomás seinen Freunden, die Jaimes Vater zuwinkten, der vom Haus zu ihnen herüberkam.

      Carlos Lemus war achtunddreißig, attraktiv und selbstbewusst, und er hatte die gleiche sonnengebräunte Haut wie Jaime und strahlend weiße Zähne. Er trug einen kurzen Schnurrbart, wie es gerade Mode war, und maßgeschneiderte Hemden und Anzüge. Er war Staatssekretär im Finanzministerium, nachdem er zuvor jahrelang die Leitung der mexikanischen Zollbehörden innegehabt hatte, eine Position, die ihm zu immensem Reichtum verholfen und durch die er sich mit gelegentlichen Gefälligkeiten in Sachen Einfuhrgenehmigungen mehr als ein paar dankbare Freunde gemacht hatte.

      Während Carlos auf die Gruppe zuging, würdigte er mit einem diskreten Blick Amelia, die sich mehr und mehr in eine Schönheit verwandelte. Er hatte die Freundin seines Sohnes schon immer gerne gemocht. Seit sie mit sieben oder acht Jahren zum ersten Mal in sein Haus gekommen war, mit Zahnlücken und roten, abgewetzten Schuhen, hatte ihm das widerspenstige Mädchen gefallen. Aber jetzt, im Badeanzug, kam sie ihm plötzlich viel älter vor als ihre vierzehnjährigen Freunde.

      »Na, Jungs, hallo, Amelia, worüber redet ihr?«, fragte er, während er sich mit einem Bier in der Hand auf einem der Liegestühle niederließ.

      »Über den Roman von George Orwell, 1984«, antwortete Tomás.

      Jaimes Vater wurde von den jungen Leuten sehr geschätzt, nicht so die Mutter, die aufgrund ihres stets vollen Terminkalenders nie ansprechbar war. Die mit Hotdogs oder Sandwiches und Limonade beladenen Tabletts, mit denen die Hausangestellte sie an deren Stelle jeden Samstagmittag reichlich versorgte, wurden allerdings mit großem Jubel in Empfang genommen. Don Carlos unterhielt sich gerne mit den Freunden seines Sohnes, während er zu Hause auf einen geschäftlichen Anruf oder Besuch wartete. Er hörte ihnen zu und provozierte sie gelegentlich, um sie zu hitzigen Diskussionen anzustacheln. Ihre Jugend weckte in ihm Erinnerungen an seine eigene Kindheit, die im Verlauf seiner hart erarbeiteten politischen Karriere fast in Vergessenheit geraten war.

      »Ich habe mir den Film am Wochenende angeschaut«, sagte Jaime, aber sein Vater hörte ihm nicht zu. Don Carlos liebte seinen Sohn, aber der war so sehr darum bemüht, in seine Fußstapfen zu treten, dass der Vater es inspirierender fand, sich mit Amelia, Tomás oder selbst Mario auszutauschen.

      »Habt ihr den Roman gelesen?«

      »Ich ja«, antwortete Tomás. »Man kann ihn doch als Kritik am Kommunismus verstehen, oder?«, fügte er etwas weniger selbstbewusst hinzu, nun, da er sich in der Gegenwart eines Politikers befand.

      »Mehr oder weniger«, sagte Carlos. »Eigentlich handelt es sich um eine Allegorie auf die individuelle Freiheit und den autoritären Staat. Orwell hat den Roman kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben, als das Gespenst der gerade erst besiegten faschistischen Mächte noch allgegenwärtig war, und sicher mit einem besorgten Fingerzeig in Richtung der Gefahr, die von den kommunistischen Diktaturen ausgeht.«

      Amelia lauschte Carlos’ Worten voller Bewunderung, aber sie hatte zu viele der politischen Lieder auf den Schallplatten ihrer Mutter gehört, um die Kritik am Sozialismus unkommentiert stehen zu lassen.

      »Wenn es in dem Roman darum geht, ein System infrage zu stellen, dann handelt es sich doch eher um politische Propaganda, oder?«

      »Gute Literatur, ganz egal, wovon sie handelt, ist nie Propaganda«, entgegnete der Hausherr mit einem Lächeln. »Ich mache euch einen Vorschlag«, fuhr er fort. »Ich schenke jedem von euch, der das Buch nicht in seinem Regal stehen hat, ein Exemplar, ihr lest es, und wenn wir uns das nächste Mal sehen, sagt ihr mir, ob ihr es für Propaganda haltet. Abgemacht?«

      Die drei, die das Buch noch nicht kannten, willigten ein. Eine Hausaufgabe, und das in den Ferien.

      »Ich lasse euch die Bücher besorgen. Wartet hier auf mich«, rief er, auf dem Weg zum Haus.

      »Dein Vater ist echt klasse«, verkündete Mario, während Jaime vor Stolz auf seinen Vater fast platzte und Tomás in seinem Innern bedauerte, dass sein intellektueller Triumph so kurzlebig gewesen war.

      »Für einen Politiker ist er nicht schlecht«, sagte Amelia und blickte ihm noch nach, als er bereits im Haus verschwunden war. »Mein Vater ist schwul«, bemerkte sie dann beiläufig.

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