Die Korrupten. Jorge Zepeda Patterson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jorge Zepeda Patterson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906903859
Скачать книгу
abgekapselt, dass sie ein Teil ihres inneren Selbst geworden war. Tatsächlich konnte Amelia sich dank der emotionalen Sicherheit, die ihr die Beziehung mit Carlos gab, auf eine viel gesündere, weniger dringliche Art verlieben.

      Erst als sie acht Jahre später beschloss, mit Héctor in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen, hielt sie es für angebracht, ihre regelmäßigen Treffen mit dem Anwalt zu beenden. Der Grund dafür war nicht, dass die Weiterführung der Beziehung sie emotional verwirrt hätte, sondern, dass sie nicht gezwungen sein wollte, sich Ausreden und Lügen einfallen zu lassen, um im Alltag mit einem festen Lebenspartner ein heimliches Verhältnis aufrechtzuerhalten.

      Fortan traf sie Carlos nicht mehr in seinem Büro, sondern nur noch gelegentlich zum Mittagessen, und obwohl sie die Begegnungen genoss, waren ihre Gespräche doch nie mehr wie früher.

      Die Beziehung mit Héctor dauerte fünf Jahre und starb schließlich aus purer Nachlässigkeit. Doch die Besuche in Carlos’ Büro gehörten der Vergangenheit an. Amelia traf ihn weiterhin zwei- bis dreimal im Jahr in einem Restaurant in Polanco. Auch Carlos unternahm keinen Versuch, ihre Blase wiederherzustellen. Dafür hätte es erst wieder eines Erdbebens bedurft.

       11

       Dienstag, 26. November, 10.00 Uhr

       Tomás und Carlos

      Tomás war beeindruckt. In den zwanzig Minuten seiner Wartezeit hatte Lemus’ Sekretärin Esther ihrem Chef vier Anrufer durchgestellt: einen Gouverneur, einen Staatssekretär des Finanzministeriums und zwei Unternehmer, die auf der Forbes-Liste der reichsten Menschen der Welt standen, die Eigentümer von Banorte und der Warenhauskette El Palacio de Hierro.

      Esther empfing Tomás überschwänglich und nahm ihn mit in ihr Büro, anstatt ihn zwischen den pittoresken Vulkanen von Dr. Atl warten zu lassen, die an den Wänden des riesigen Wartebereichs prangten. Tomás wurde wieder einmal bewusst, wie sehr er die Sekretärin mochte, eine alleinstehende Frau in ihren Fünfzigern, effizient und organisiert, aber kein bisschen langweilig. Sie behauptete immer, dass sie nur deshalb nicht geheiratet hätte, weil sie nicht von den Launen eines Mannes abhängig sein wollte. Außerdem glaubte sie fest daran, dass die Monogamie nichts für sie war. Meistens verliebte sie sich in Musiker, Poeten, Kellner und andere Nachtgestalten, die früher oder später wieder aus ihrem Leben verschwanden. Sie prahlte gerne ein bisschen damit, anstelle von Porzellanfiguren Erinnerungsstücke aus ihren Beziehungen zu sammeln. Ein Vitrinenschrank in ihrem Wohnzimmer stellte in treffender Weise die exzentrische Natur ihrer Beziehungen zur Schau: Da waren ein schwarzer Sonnenhut mit einer langen Feder, ein Stiefel mit roten Farbklecksen, eine Silbernadel zur Aufbewahrung von Geldscheinen mit der Inschrift »Für Frauen und Feste, der Rest kann verschwendet werden« und sogar ein aus Holz geschnitzter Penis von einem eitlen Ex-Liebhaber.

      Esthers Aufmachung sagte alles: Sie trug einen langen, taillierten Rock mit weinrotem Gürtel, Netzstrumpfhosen und auffällige rote Absatzschuhe, eine weiße durchsichtige Bluse und einen BH mit schwarzer Spitze. Ihr Haar war derzeit kohlrabenschwarz, aber Tomás hatte sie schon mit roten, weißen und blonden Haaren gesehen. Ihr Make-up war tadellos, obwohl sie damit eher in eine Bar gepasst hätte als in ein Büro mit Möbeln aus Mahagoni und weichen Teppichen. Sie war nicht schön, aber sie hatte ein umwerfendes, spontanes Lachen, und ihre großen Zähne waren stets umrahmt von dunkelrot geschminkten Lippen.

      »Hallo, Tomás, gut siehst du aus! Du bist der erste Blaue, den ich seit Langem zu Gesicht bekomme.«

      »Das Kompliment kann ich nur zurückgeben, Esther! Wie läuft es mit deiner Sammlung? Wächst sie weiter, oder gibt es einen Glücklichen, der deine Vitrine jetzt in Beschlag genommen hat?«, erkundigte sich Tomás, der wusste, dass das ein Lieblingsthema von ihr war.

      »Im letzten Jahr ist eine Polaroidkamera dazugekommen, die mir ein Kollege von dir hinterlassen hat, und ein Morgenmantel à la Mauricio Garcés in Bischofslila, einfach göttlich. Inzwischen glaube ich, dass mich das Andenken mehr interessiert als der Mann selbst«, sagte Esther lachend.

      Tomás lachte mit. »Glaub mir, die meisten Geschiedenen, die ich kenne, haben schlechtere Souvenirs von ihren Ex-Männern. Ich frage mich, was du von mir in deine Sammlung aufgenommen hättest, wenn ich an deiner Vitrine vorbeigekommen wäre.«

      »Das wissen nur die, die vorbeikommen – und manchmal nicht einmal sie«, erwiderte sie kokett.

      Wenn es nicht um Büroangelegenheiten ging, waren die Gespräche mit Esther meist unterhaltsam erotisch, aber nie obszön. Bett und Schreibtisch hatte sie seit jeher kategorisch getrennt, doch Tomás war sich sicher, dass die Sekretärin schon ihr halbes Leben lang in ihren Chef verliebt war.

      Er musterte sie liebevoll. Statt an der Unmöglichkeit ihrer Liebe zu verbittern, hatte sie sich damit abgefunden, Montag bis Freitag tagsüber mit dem Mann zu verbringen, den sie liebte, und die Nächte und Wochenenden mit vielen anderen, die sie nicht liebte. Mitleid stieg in ihm hoch, verflog aber sofort wieder, als die Sekretärin anfing, eine fröhliche Melodie zu summen. Vielleicht ist diese Frau in ihrem Leben glücklicher als wir alle, sagte er sich.

      Seine Gedanken über Esthers Lebensglück wurden jäh unterbrochen, als sich die Flügeltüren zu Carlos Lemus’ Büro öffneten und ein Klavierkonzert von Brahms das kleine Empfangsbüro erfüllte.

      »Hallo, Tomás, wie schön, dich zu sehen!«

      »Ganz meinerseits, Don Carlos, vielen Dank, dass Sie sich für mich Zeit nehmen.«

      »Wenn du mich weiterhin siezt, ist das Gespräch jetzt schon beendet«, sagte der Anwalt und zog Tomás an der zum Gruß ausgestreckten Hand in eine herzliche Umarmung. »Komm rein«, fügte er hinzu.

      Wie ferngesteuert folgte Tomás dem mit energischen Schritten vorangehenden Anwalt, bis er in einem Ledersessel in einer Ecke des Büros zu sitzen kam. Sein Gastgeber nahm gegenüber von ihm, auf der anderen Seite eines Schachtischchens, Platz. Aus irgendeinem Grund war der Journalist dankbar, dass es kein Schreibtisch war, der zwischen ihnen stand.

      »Kaffee, Tee? Etwas Stärkeres?«

      »Danke, Carlos, ich möchte gerade gar nichts.«

      »Es freut mich wirklich, dich zu sehen, Tomás. Bald gehen wir mal zusammen essen, du und ich, und plaudern über das Leben, die Politik und die Frauen, aber heute werde ich dich nicht mit meinem Geschwätz aufhalten. Amelia hat gestern Abend mit mir über deine Situation – auch die versuchte Entführung – gesprochen und darüber, wie ich euch vielleicht helfen kann.«

      Die Neuigkeiten gefielen Tomás überhaupt nicht. Schon wieder sind sie Komplizen, dachte er. Carlos hatte sich erst kurz nach Mitternacht von Amelia verabschiedet, ein Telefonat zu so später Stunde sagte eine Menge über das Maß an Vertrauen und Intimität zwischen seiner Freundin und dem Anwalt.

      »Hoffentlich hat sie das über eine sichere Verbindung getan«, bemerkte Tomás verärgert.

      »Zu hundert Prozent abhörsicher, da mach dir mal keine Sorgen.«

      Die Antwort beruhigte Tomás kein bisschen. Hatten sie sich persönlich getroffen? In den frühen Morgenstunden?

      »Ich stimme mit eurer Strategie überein«, fuhr Lemus fort. »Sieh zu, dass alle über deine Kolumnen reden und du in den Medien präsent bist, sprich: Erhöhe den Preis für den Fall, dass jemand dir etwas anhaben will.«

      »Genau das ist meine Absicht. Ich habe ein paar Themen im Gepäck, die für viel Aufregung sorgen dürften«, sagte Tomás und dachte an Jaimes Versprechen, ihm am Abend den Stoff für eine mediale Bombe zu liefern. Außerdem vertraute er darauf, Amelias Informationen über die Pipelines von PEMEX ausschlachten zu können.

      »Gut. Dich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, wird dein bester Schutz sein. Aber ich würde gerne noch über den zweiten Teil der Strategie mit dir sprechen, darüber, dass ihr die Sache als Waffe gegen Salazar einsetzen wollt. Das ist ein ganz anderes Kapitel, und ich würde gerne deine Meinung dazu hören.«

      Tomás