Die Korrupten. Jorge Zepeda Patterson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jorge Zepeda Patterson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906903859
Скачать книгу
rannte er hinter den Kombi, weil es das einzige Versteck in der langen Reihe parkender Kleinwagen war, das ihn vollständig verdecken würde. Es handelte sich um einen Transporter ohne Fenster, hinter dem Tomás in die Hocke ging. Wenige Augenblicke später hörte er, wie der Lieferwagen um die Ecke bog und gleich darauf am rechten Straßenrand zum Stehen kam. Geduckt lief Tomás in Richtung der Straße zurück, über die sie gekommen waren, erreichte die Straßenecke und rannte dann los in Richtung Insurgentes. Der weiße Lieferwagen war nicht zu sehen, aber er schätzte, dass es nur eine Frage von Sekunden war, bis einer der Insassen zurücklaufen und die Straße nach ihm absuchen würde. Er musste es bis zur nächsten Seitenstraße schaffen, um aus dem Sichtfeld zu verschwinden. Er konnte nur hoffen, sie würden annehmen, dass er in Fahrtrichtung des Taxis weitergelaufen war.

      Tomás’ Lungen brannten, als wollten sie in Flammen aufgehen. Die nächste Straßenecke schien unerreichbar, und jeden Augenblick konnte sich der Blick eines der Männer in seinen Rücken bohren. Ich werde es nicht bis zur nächsten Ecke schaffen, sagte er sich. Fünf Meter weiter, mehr aus Atemnot denn aus strategischen Gründen, schlüpfte er in eine Filiale der Apothekenkette Similares. Zwei Verkäufer und ein Kunde blickten ihn alarmiert an.

      »Ich werde verfolgt«, sagte Tomás. »Verstecken Sie mich, bitte!«

      Keiner der Anwesenden rührte sich.

      »Ich flehe Sie an, jedem von Ihnen könnte das Gleiche passieren.«

      Der jüngere der beiden Angestellten blickte nach hinten in den Laden und wirkte nicht sehr überzeugt. Es war eine kleine Filiale ohne richtiges Lager. Aber dann schien ihm etwas einzufallen, und er deutete auf ein Doktor-Simi-Kostüm in einer Ecke des Raumes.

      »Der Typ, der das anzieht, kommt erst morgen«, erklärte er ihm. »Ihre Entscheidung.«

      Tomás hielt es zuerst für einen Scherz, aber niemand lachte. Er kam zu dem Schluss, dass ihm alles lieber war, als wieder hinaus auf die Straße zu gehen. Die beiden Verkäufer halfen ihm in das Kostüm, während der Kunde hastig seine Einkaufstüte nahm und den Laden verließ. Bevor er verschwand, sagte er noch: »Da kommt jemand angerannt, beeilen Sie sich.«

      Die Angestellten hatten sich kaum von dem Maskottchen entfernt, als sie draußen einen korpulenten, schwitzenden Typen vorbeirennen sahen. Tomás versuchte, sich zu erinnern, was genau Doktor Simi immer machte, und plötzlich hatte er wieder vor Augen, wie die Puppe zu Música Tropical tanzend die Kunden einlud, in die Apotheke zu kommen. Zum Glück gibt es keine Musik, sagte er sich, während er damit kämpfte, seine vom schieren Gewicht der Verkleidung gehemmten Bewegungen zu kontrollieren. Er begann, ungeschickt mit den riesigen Händen zu klatschen, und ging zur Ladentür. Der Mann war bereits an der nächsten Häuserecke angelangt und überprüfte jetzt den zurückgelegten Weg, um sich das plötzliche Verschwinden seines Opfers zu erklären. Der weiße Lieferwagen hielt auf Höhe seines Mitstreiters an, nachdem er offensichtlich einmal um den ganzen Block gefahren war. Anscheinend waren seine Verfolger inzwischen – zu Recht – überzeugt, dass Tomás in die Straße zurückgelaufen war, die sie entlanggekommen waren. Die Männer standen keine zehn Meter von ihm entfernt, als sie laut fluchend beratschlagten, was als Nächstes zu tun sei.

      »Der Idiot kann die Ecke da vorne noch gar nicht erreicht haben, er muss irgendwo in diesem Block sein«, sagte der Schwitzende.

      »Es gibt hier nur drei oder vier Geschäfte, ich bezweifle, dass er es geschafft hat, in eines der Häuser reinzukommen. Durchsucht die Läden«, ordnete der Fahrer des Lieferwagens an.

      Tomás klatschte weiterhin fleißig in die Hände und balancierte dabei von einem Bein auf das andere. Die Apotheke war das erste Geschäft auf dem Weg seiner Verfolger, das geöffnet hatte. Er war froh, dass man von Doktor Simi nicht erwartete, dass er etwas sagte, denn das wäre ihm jetzt nicht möglich gewesen: Er atmete immer noch schwer, außerdem schnürte ihm die Angst die Kehle zu.

      Der Typ betrat die Apotheke und befragte die beiden Angestellten: »Haben Sie jemanden auf der Flucht gesehen? Es geht um einen Dealer, der vor einer Schule Drogen verkauft. Er muss hier vorbeigekommen sein.«

      »Nein, Señor«, antwortete der Jüngere. »Ich war mit dem Kunden beschäftigt, der gerade den Laden verlassen hat, ich habe leider niemanden gesehen.«

      »Ich auch nicht, Herr Wachmann. Ich war gerade hinten, um Medikamente zu holen«, versicherte der andere Angestellte schnell. Der Jüngere war definitiv der bessere Schauspieler.

      Der Mann beugte sich über den Verkaufstresen, hob den Vorhang an und erkannte, dass der schmale Gang, der als Lager diente, zu klein war, um jemanden zu verstecken.

      »Und du, hast du was gesehen?«, wandte er sich an Doktor Simi.

      Tomás zuckte mit den Achseln, um anzuzeigen, dass er keine Ahnung habe, aber der Mann, der auf keinen Fall ein Wachmann war, sah ihn weiterhin abwartend an. Dem Journalisten wurde bewusst, dass sich die Geste in seinem Kostüm verloren haben musste, also verneinte er, indem er übertrieben mit den Armen fuchtelte.

      Der Blick des Mannes kehrte zu dem älteren der beiden Angestellten zurück. Er betrachtete ihn ein paar Sekunden lang, aber etwas schien ihm zu sagen, dass es sich nicht lohnte, die Befragung fortzusetzen, und er machte sich auf den Weg zum nächsten Laden, einem Schönheitssalon einen halben Block weiter vorne.

      Tomás sah mit Erleichterung, wie sich der Typ entfernte. Auf der anderen Straßenseite ging sein Kollege gerade auf die Eisenwarenhandlung zu, die sich an der Ecke gegenüber befand.

      Ein stechender Kopfschmerz machte Tomás darauf aufmerksam, dass er die ganze Zeit über so fest die Zähne aufeinandergebissen hatte, dass sich sein Kiefer völlig verspannt hatte. Er atmete einmal tief durch und sagte sich, dass die Gefahr vorbei sei.

      Er sah sich nach dem weißen Lieferwagen um. Der Fahrer war ausgestiegen und lehnte an der Motorhaube, von wo er aufmerksam zu ihm herüberschaute. Dann schien er einen Entschluss zu fassen und kam auf ihn zu. Tomás wich instinktiv zurück und fragte sich, welche Möglichkeiten der Verteidigung er hatte. Der Mann erreichte die Apotheke, sah ihn kurz an und sagte: »Ganz ruhig, Doktor Simi.« Er wandte sich an einen Angestellten und verlangte eine Packung Kondome. Nachdem er mit einem Hundert-Peso-Schein bezahlt hatte, kehrte er zum Lieferwagen zurück.

      Der Fahrer wartete weitere fünfzehn Minuten, die sich für Tomás wie Stunden anfühlten, dann marschierte er los, um seine Kollegen einzusammeln und zu verschwinden. Ob sie auch den Taxifahrer mitnahmen oder diesen einfach bewusstlos in dem Wagen zurückließen, wusste er nicht.

      Der Journalist wartete, bis es dunkel wurde, dann erst wagte er es, aus dem Kostüm zu klettern. Er bedankte sich bei den Mitarbeitern der Apotheke und versicherte ihnen mehrmals, dass er kein Straftäter sei; der Jüngere schien ihm zu glauben, bei dem Älteren war er sich nicht so sicher. Es war offensichtlich, dass sich keiner der beiden in die Sache einmischen wollte, weder um ihm zu helfen noch um ihn anzuzeigen.

      Die nächsten drei Stunden verbrachte er damit, zu Fuß durch die Stadt nach San Ángel zu laufen. Bis zu dem Treffen mit Amelia war noch Zeit, und er verspürte nicht den Wunsch, noch einmal in ein Taxi zu steigen.

       8

       Montag, 25. November, 14.30 Uhr

       Vidal und Luis

      Wenn er pro Tag eine Tüte rauchte, würde die Ration für drei Tage reichen. Marihuana war in den letzten Monaten um einiges teurer geworden, während der Preis für Pillen immer weiter sank. Allerdings hatte er sich vor drei Jahren geschworen, kein Ecstasy mehr anzurühren, nachdem er sich am Ende einer durchfeierten Nacht in einer Disko schlimm vergiftet hatte.

      Am liebsten hätte er sich sofort einen Joint gedreht und ihn in Ruhe auf der Dachterrasse geraucht, aber auf der Tastatur lag eine Nachricht von seinem Vater: »Tomás bittet dich, ihm beim Erstellen einer Filmografie von Dosantos zu helfen. Kannst du das machen?« Vidal musste über die Naivität seines Vaters lächeln. In den letzten drei Stunden hatte er das Netz durchkämmt und praktisch