Er redete mit solcher Schnelligkeit, daß er nicht die Hälfte der Worte vollständig aussprach; aber der Sohn war schon daran gewöhnt, ihn trotzdem zu verstehen. Er führte den Sohn an den Schreibtisch, schlug den Deckel zurück, zog einen Kasten auf und nahm ein Heft heraus, das mit seinen kräftigen, langen, engstehenden Buchstaben vollgeschrieben war.
»Wahrscheinlich werde ich vor dir sterben. Also sieh: da sind meine Memoiren, die übergib nach meinem Tod dem Kaiser. Und nun hier: ein Wertpapier und ein Brief; das ist ein Preis, den ich für denjenigen aussetze, der eine Geschichte der Feldzüge Suworows schreiben wird; das übersende der Akademie. Hier sind gelegentliche Bemerkungen, die ich aufgezeichnet habe; wenn ich tot bin, so lies sie still für dich; du wirst davon Vorteil haben.«
Andrei sagte seinem Vater nicht, daß er doch gewiß noch lange leben werde. Er wußte, daß er dergleichen nicht sagen durfte.
»Ich werde alles ausführen, lieber Vater«, erwiderte er.
»Nun, also dann leb wohl!« Er reichte dem Sohn die Hand zum Kuß und umarmte ihn. »Das eine halte dir gegenwärtig, Fürst Andrei: wenn du im Krieg fällst, so wird das für mich alten Mann ein Schmerz sein ...« Hier schwieg er unerwartet und fuhr dann plötzlich mit schreiender Stimme fort: »Aber wenn ich erfahren sollte, daß du dich nicht so geführt hast, wie es sich für den Sohn Nikolai Bolkonskis geziemt, dann wird das für mich eine Schmach sein!« Die letzten Worte kamen kreischend heraus.
»Das hatten Sie nicht nötig mir zu sagen, lieber Vater«, erwiderte der Sohn lächelnd.
Der Alte schwieg.
»Ich habe an Sie noch eine Bitte«, fuhr Fürst Andrei fort. »Wenn ich fallen sollte und wenn mir ein Sohn geboren wird, dann lassen Sie ihn, bitte, nicht aus Ihrer Hut, wie ich Sie schon gestern bat, damit er bei Ihnen hier aufwächst. Darum bitte ich Sie.«
»Deiner Frau soll er also nicht überlassen werden?« sagte der Alte und lachte.
Schweigend standen sie einander gegenüber. Die lebendigen Augen des alten Fürsten waren gerade auf die Augen des Sohnes gerichtet. Da ging ein Zucken über den unteren Teil des Gesichtes des Vaters.
»Nun haben wir voneinander Abschied genommen ... nun geh!« sagte er plötzlich. »Geh!« schrie er mit lauter, zorniger Stimme und öffnete die Tür des Arbeitszimmers.
»Was ist denn? Was gibt es?« fragten die Fürstin und die Prinzessin, als sie den Fürsten Andrei und die für einen Augenblick zum Vorschein kommende Gestalt des laut und zornig schreienden alten Mannes, im weißen Schlafrock, ohne Perücke und mit der altväterischen Brille, erblickten.
Fürst Andrei seufzte und gab keine Antwort.
»Nun«, sagte er zu seiner Frau gewendet.
Dieses »nun« klang wie kalter Spott, als ob er sagen wollte: »Jetzt mache du deine törichten Mätzchen!«
»Andrei, schon?« sagte die kleine Fürstin, die ganz blaß wurde und voll Angst ihren Mann anblickte.
Er umarmte sie. Sie schrie auf und sank bewußtlos gegen seine Schulter.
Vorsichtig zog er die Schulter, an der sie lag, weg, sah ihr ins Gesicht und setzte sie behutsam auf einen Lehnstuhl.
»Adieu, Marja«, sagte er leise zu seiner Schwester; sie küßten sich, einander gleichzeitig die Hand drückend, und er ging mit schnellen Schritten aus dem Zimmer.
Die Fürstin lag auf dem Lehnstuhl, Mademoiselle Bourienne rieb ihr die Schläfen. Prinzessin Marja stützte ihre Schwägerin, blickte mit den schönen, verweinten Augen immer noch nach der Tür, durch die Fürst Andrei hinausgegangen war, und machte das Zeichen des Kreuzes hinter ihm her. Aus dem Arbeitszimmer hörte man, wie der alte Herr sich mehrmals grimmig und sehr laut schneuzte; es klang fast wie wiederholte Pistolenschüsse. Sobald Fürst Andrei hinausgegangen war, wurde die Tür des Arbeitszimmers schnell geöffnet, und es erschien die Gestalt des strengblickenden Alten im weißen Schlafrock.
»Ist er abgefahren? Nun, dann ist's gut!« sagte er, warf einen ärgerlichen Blick auf die ohnmächtig daliegende kleine Fürstin, schüttelte unzufrieden den Kopf und schlug die Tür wieder zu.
Fußnoten
1 Koseform für Andrei.
Anm. des Übersetzers.
Zweiter Teil
I
Im Oktober 1805 besetzten russische Truppen nicht wenige Dörfer und Städte des Erzherzogtums Österreich, und immer neue Regimenter langten aus Rußland an und schlugen, die Einwohner durch die Einquartierung arg bedrückend, bei der Festung Braunau ein Lager auf. In Braunau war das Hauptquartier des Oberkommandierenden Kutusow.
Am Morgen des 11. Oktober1 1805 war eines der soeben bei Braunau eingetroffenen Infanterieregimenter, in Erwartung der Besichtigung durch den Oberkommandierenden, eine halbe Meile vor der Stadt aufmarschiert. Obgleich das Regiment sich im Ausland befand, wo die Landschaft einen nichtrussischen Charakter trug (Obstgärten, steinerne Einfassungsmauern, Ziegeldächer, ferne Bergzüge) und eine nichtrussische Bevölkerung das fremde Militär neugierig betrachtete, so hatte das Regiment doch genau dasselbe Aussehen wie jedes russische Regiment, welches sich irgendwo im Innern Rußlands zur Besichtigung bereitgemacht hat.
Am vorhergehenden Abend, nach Zurücklegung des letzten Tagemarsches, war eine Order eingegangen, der Oberkommandierende wünsche das Regiment auf dem Marsch zu besichtigen. Obgleich der Wortlaut der Order dem Regimentskommandeur unklar erschienen war und sich die Frage erhoben hatte, wie der betreffende Ausdruck der Order zu verstehen sei, ob marschmäßig oder nicht, so war doch in einer mit den Bataillonskommandeuren abgehaltenen Beratung beschlossen worden, das Regiment parademäßig vorzustellen, aufgrund der Regel, daß es immer besser ist, in Achtungsbezeigungen zu viel als zu wenig zu tun. So hatten denn die Soldaten nach einem Marsch von dreißig Werst die ganze Nacht über kein Auge geschlossen; sie hatten ihre Sachen ausgebessert und gereinigt; die Adjutanten und Kompanieführer hatten ihre Berechnungen für die Aufstellung gemacht und die Leute abgezählt, und am Morgen bildete das Regiment statt eines langgezogenen, unordentlichen Haufens, wie es sich tags zuvor auf dem letzten Marsch präsentiert hatte, eine wohlgeordnete Masse von zweitausend Mann, von denen ein jeder seinen Platz und seine Obliegenheit kannte, und bei denen an dem Anzug eines jeden jeder Knopf und jeder Riemen an seiner Stelle war und vor Sauberkeit glänzte. Und nicht nur die Außenseite der Leute war in guter Ordnung; sondern wenn es dem Oberkommandierenden beliebt hätte, einen Blick auch unter die Uniformen zu tun, so würde er bei jedem Mann ohne Ausnahme ein reines Hemd und in jedem Tornister die vorschriftsmäßige Zahl von Gegenständen, den »ganzen Kommißplunder«, nach soldatischer Bezeichnung, gefunden haben. Es gab nur einen Punkt, in betreff dessen niemand beruhigt sein konnte: das Schuhzeug. Mehr als die Hälfte der Leute hatte zerrissene Stiefel. Aber an diesem Mangel war der Regimentskommandeur schuldlos; denn trotz seiner wiederholten Forderungen hatte ihm die österreichische Intendantur kein Leder geliefert, und das Regiment war tausend Werst marschiert.
Der Regimentskommandeur war ein schon ältlicher General, dessen Augenbrauen und Backenbart bereits zu ergrauen begannen, ein vollblütiger, stämmiger Mann, von der Brust zum Rücken gemessen breiter als von einer Schulter zur andern. Er trug eine nagelneue Uniform, die aber vom Transport Quetschfalten aufwies, und dicke goldene Epauletten, von denen, wie es beinah scheinen konnte, seine fleischigen Schultern nicht sowohl nach unten als vielmehr nach oben gezogen wurden. Das Benehmen des Regimentskommandeurs machte den Eindruck, als ob er ganz glückselig eine der bedeutsamsten Handlungen seines Lebens vollzöge. Er schritt vor der Front auf