Eine Änderung kann nur durch Üben geschehen – auch jede Fähigkeit entsteht so.
Erster Übungskomplex: Reinigung des Denk- und Vorstellungslebens
Die «Reinigung» war in jeder Tradition der erste Schritt zur Ausbildung gesteigerter Erkenntnisfähigkeiten. Da in unserer Zeit das Denken / Vorstellen die einzige autonome Seelenfähigkeit ist, beginnt der Schulungsweg mit der Reinigung dieser Funktionen.
1. Übung
Wir nehmen ein einfaches Thema zum Denken / Vorstellen, zum Beispiel, was wir morgen oder heute voraussichtlich noch tun werden; oder was wir gestern getan haben; oder was der nächste Schritt in der Erziehung unseres Kindes sein sollte oder der nächste Schritt in der Lösung eines Problems. Es soll kein attraktives, interessantes Thema sein.
Wir beginnen, uns darüber Gedanken, Vorstellungen zu machen, und versuchen, alle Assoziationen, die von der Linie oder vom Netzwerk des Themas wegführen, zu vermeiden. Man kann dies auch so ausdrücken: Wir versuchen, kontinuierlich zu denken – nicht schubweise mit Unterbrechungen – und stets beim Thema – zu bleiben. Wir versuchen, auch auf die begleitenden Gefühle zu achten, indem wir sie das Denken / Vorstellen nicht beeinflussen lassen; der Vorgang soll so objektiv wie möglich verlaufen. Die begleitenden Gefühlsnuancen sollen bemerkt werden, den Denkvorgang aber nicht beeinträchtigen. Diese Übung kann fünf bis zehn Minuten dauern.
Ist sie beendet, so schauen wir auf ihren Verlauf zurück, registrieren die Abstecher und Unterbrechungen, auch die dabei aufkommenden Gefühle, und machen uns deutlich, wann oder wo sie in der innerlich erlebten Geschichte aufgetreten sind.
2. Übung
Wir wiederholen die erste Übung, aber nun mit einem uns sehr interessierenden, attraktiven Thema. Später vergleichen wir die erste mit der zweiten Übung und registrieren die Unterschiede in der Anzahl und Intensität der Ablenkungen und in der Qualität und Intensität der Gefühle. Das Ziel ist, in beiden Übungen die Kontinuität des Vorgangs zu erreichen.
3. Übung
Der zweite Schritt in der Reinigung des Denkens besteht darin, dass wir übungsweise die Wahrnehmungselemente im Denken vermeiden. Denn in jeglicher Sinneswahrnehmung ist ein Element der Stofflichkeit, das für das Denken undurchdringlich ist: Wo das Denken / Vorstellen auf Stoffliches trifft, prallt es zurück. Das Stoffliche ist, abgesehen von seiner Qualität, undenkbar, das Denken berührt es nur wie von außen.3
Besinnung / Meditation 5: Das Stoffliche ist undenkbar.
Die Übung besteht darin, dass wir zum Denken ein Thema wählen, das keine Wahrnehmungselemente enthält. So zum Beispiel den Satz: «Wir wissen nicht, wie wir denken» aus dem Auftakt; oder eine von den ersten vier Besinnungen; oder eine philosophische, mathematische oder logische Wahrheit oder Gesetzmäßigkeit. Wir versuchen, diese «abstrakten» Sätze weiterzudenken, unter Vermeidung von Wahrnehmungsvorstellungen. Je konzentrierter (kontinuierlicher) wir das tun, umso durchsichtiger wird der Verlauf für das Denken. Nach dieser Übung vergleichen wir die Erfahrungen aus den ersten drei Übungen.
4. Übung
Wir versuchen, den Sinn von Konjunktionswörtern zu erfassen (zu verstehen), wie «ja», «nein», «aber», «oder», «doch», «jedoch», «und», «so», «wie», «als», «ob», «nur», «wenn», «sonst», «ohne» und so weiter. Es sind keine Definitionen oder Erklärungen durch andere Wörter – wie beispielsweise «ja» heißt Einwilligung – gewünscht, nur die innere Gebärde des Verstehens. Wörter wie diese enthalten keine Wahrnehmungselemente, sie sind wie Gelenke der Rede, lauter innere Gebärden. Es ist lehrreich, sie mit den entsprechenden Ausdrücken anderer Sprachen zu vergleichen («aber» – «but») und dabei auch auf die Unterschiede in der Bedeutung zu achten.
Besinnung 6: Die Bedeutungen aller dieser Wörter sind in der Wahrnehmungswelt nicht zu finden. Woher kommen sie, und was ist ihre Rolle?
5. Übung
Wir versuchen, den Sinn von Adjektiven, wie «gut», «schön», «groß», «klein», «lang», «langsam», «dunkel», «rund», «eckig», zu erfassen. Es ist einzusehen, dass diese Wörter sich zwar auf Wahrnehmungen beziehen können (was nicht unbedingt gilt, siehe «eine große Idee»), jedoch nicht aus der Wahrnehmungswelt stammen. Um etwas Viereckiges zu sehen, muss der Mensch die Begriffe «vier» und «eckig» schon gefasst haben. Die Zahlen sind vielleicht das beste Beispiel für das Verhältnis des denkerisch Erfassten zur Wahrnehmungswelt.
6. Übung
Wir versuchen, Sätze aus der dritten Übung mit anderen Worten auszudrücken. Dann übersetzen wir, wenn möglich, die Sätze in eine Fremdsprache. Wir können die Übung gleich mit dem vorvorigen Satz «Wir versuchen, Sätze …» oder mit dem vorliegenden «Wir können die Übung …» probieren.
Besinnung 7: Was übersetzen wir?
Gedanken über Sprache – Worte, Sätze, Begriffe, Gegenwart und Verstehen
Die Besinnung7 kann uns zeigen, dass der Sinn des Satzes bei der Übersetzung – denn wir übersetzen den Sinn, nicht die Worte – wenigstens für Augenblicke ohne Worte und auch außerhalb einer Sprache – im Übergang – existieren kann. Das ist vielleicht nicht so überraschend, wenn wir die nächste Besinnung einbeziehen.
Besinnung 8: Wenn wir etwas in einen Satz fassen, laut oder nur innerlich, woher wissen wir, mit welchem Wort zu beginnen ist, welches das zweite, das dritte sein wird und was für eine grammatische Form die entsprechende ist?
Auch kann man gegebenenfalls entscheiden, in welcher Sprache das ausgedrückt werden soll. Nicht selten sind wir mit dem Ausdruck unzufrieden – was vergleichen wir dann mit dem Ausdruck? Wenn wir dieser Frage nachgehen, wird offensichtlich, dass der Sinn oder die Bedeutung des Satzes schon da sein muss, bevor ich die Sprache, die Worte, das heißt die Zeichen für die Bedeutung, wählen kann. Es ist auch bekannt, dass das Verstehen eines Textes über das Verstehen der Wörter hinausgeht; es kann vorkommen, dass wir alle Wörter eines Satzes verstehen, den Satz aber nicht, oder umgekehrt, wir verstehen einige Wörter im Satz nicht, und doch ist dieser verständlich und beleuchtet die nicht verstandenen Wörter – im Umgang mit Fremdsprachen passiert das oft. Der Sinn oder die Bedeutung ist wortlos, übersprachlich vor dem Erscheinen der Zeichenform da, und beim Verstehen gelangt der Verstehende wieder zur geistigen Form der Bedeutung. Auch wenn wir ein Wort übersetzen – oder in derselben Sprache durch ein anderes ersetzen –, ist klar, dass wir die Bedeutung vom Zeichen, von der Lautfigur trennen können, dass die Bedeutung unabhängig von der sinneswahrnehmbaren Erscheinung existiert. Die nächste Stufe der Reinigung des Denkens wäre ein – kontinuierliches – Denken ohne Worte. Das und noch mehr geschieht in Augenblicken der Geistesgegenwart: Als ob das Denken mit unendlicher Geschwindigkeit verliefe, nicht Schritt um Schritt in der Zeit. Kontinuierlich und absichtlich ohne Worte zu denken ist den meisten Erwachsenen unserer Zeit ohne vorangehende Übung versagt. Übungen aber können dazu führen.
Besinnung/Meditation 9: Die Wörter kommen aus dem Wortlosen.
Hinter den Wörtern stehen Begrifflichkeiten, das heißt, ein Wort ist ein Zeichen für ein Verständnis,