7 DIE INDIVIDUELLE EIGENART DER SEXUALITÄT
Die Kultur der Diagnosestellung
Keine Angst vor Gesprächen über Sex!
Geleitwort
„Ich bin Ann-Marlene Henning, ich bin Sexologin.“ Mit diesen Worten begann im ZDF jede Episode meiner Aufklärungsserie MAKE LOVE – Liebe machen kann man lernen. Nun, lieben kann jeder Mensch von sich aus, im Programmtitel spiegelt sich vielmehr eine öffentlich-rechtliche Scheu, bestimmte Dinge beim Namen zu nennen – womit wir gleich beim Thema dieses Buches wären. Denn in meiner Sendung ging es vordergründig um Sex. Und ja, auch in meiner sexualtherapeutischen Praxis führe ich täglich mit Klienten und Klientinnen, wie ich sie nenne, Gespräche über Sexualität. Damals, nach den Fernsehausstrahlungen, schrieben mir Zuschauer, wie sie auf einmal den Mut verspürten, das Thema Sex anzugehen. Tenor der Rückmeldungen: Ich wurde inspiriert, mich selbst stärker zu reflektieren. Das Thema Sex schien so positiv und selbstverständlich. Ihre Gesprächspartner überwinden anscheinend nicht nur eine gewisse Hemmschwelle, sondern scheinen zusehends immer mehr Spaß an dem Austausch zu haben! Ich lerne, dass das Sprechen so wichtig ist. Andere meinten, sie hätten nun auch damit begonnen, nach der Sexualität ihrer Patienten und Patientinnen zu fragen und ausgesprochen angenehme Erfahrungen damit gemacht. So einfach geht das. In diesem Buch, „Sprechen über Sex“, wird das Thema Sexualität ähnlich sexpositiv angegangen. Karina Kehlet Lins, meine geschätzte Kollegin, zeigt – wissenschaftlich fundiert – Fallgruben auf, die bei Gesprächen über Sexualität zu umgehen sind, und regt zur Beschäftigung mit dem Thema an, ohne jemals verurteilend oder wertend zu sein.
Die Frage, ob bzw. wie das Thema Sex in einem Therapieverlauf angesprochen werden sollte, war für mich als Sexualtherapeutin allerdings erst mal überraschend. Das Bedürfnis, mehr über dieses Ob und das Wie zu erfahren, ist jedoch groß, wie ich in Gesprächen mit Kollegen und Kolleginnen feststellen konnte. Nach wie vor kommt das Thema Sexualität in den diversen Ausbildungsgängen im Gesundheitswesen kaum vor. Zwar bietet die Merseburger Hochschule seit 2016 einen Masterstudiengang in beratender Sexualtherapie an und auch andere – häufig private – Schulen führen entsprechende Ausbildungen im Programm, insgesamt gibt es in Deutschland aber wenig Möglichkeiten, sich systematisch im Bereich Sexologie auszubilden. Die Folge: Meist prägen eigene Werte und Haltungen der Therapeuten und Therapeutinnen den Zugang zum Thema – oft sogar, ohne dass dies irgend jemandem bewusst wäre. Dabei gehört sexuelle Gesundheit zur allgemeinen Gesundheit. Wie die Autorin dieses Buches betont: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen ihr Leben als gesund, sinnvoll und gut empfinden, erhöht sich, wenn sie ein erfülltes Sexualleben haben. Das bedeutet: Wenn das Thema Sexualität ausgelassen wird, geht häufig eine wichtige Ressource verloren.
Personen im Gesundheitssektor wären demnach eigentlich verpflichtet, in ihrer Arbeit (auf objektive Art) nach Sexualität zu fragen. Im krassen Gegensatz dazu steht die Aussage vieler meiner Klienten und Klientinnen: „Ich war schon bei so vielen Therapeuten, aber wenn mein sexuelles Problem aufkam, wollten sie darüber nicht sprechen.“ Tabus und Scham tragen generell dazu bei, dass selten aufrichtig über das eigentlich so spannende und lebensbejahende Thema Sex gesprochen wird. Und ja, unsere Klienten und Klientinnen mögen dabei erst mal aufgeregt sein, sind aber rasch erleichtert, wenn endlich auch diese sexuellen Dinge, die sie so lange verunsichert und traurig gemacht haben, im Therapiegespräch ihren Platz finden.
Mein Fazit an dieser Stelle: Klienten, Klientinnen, Patienten und Patientinnen wollen in der Regel über Sex sprechen, wenn hier ein Thema verborgen liegt, brauchen aber dafür mitunter etwas „Starthilfe“. Das Schöne dabei ist: Mit etwas Übung kann jeder Mensch lernen, entspannt über Sexualität zu sprechen. Wie das geht? In diesem Buch finden sich Antworten und Anregungen. Überraschende Fragen und kleine Übungen machen – von Theorie untermauert – den Einstieg in das Thema leichter. Leser und Leserinnen werden zum Nachdenken über die eigenen Vorstellungen und Grenzen aufgefordert. Dabei hat Karina Kehlet Lins einen ausgesprochen klaren Blick dafür, wie weit die Grenzen der Normalität gesteckt sind, und entledigt sich weitgehend des Begriffs Störung (und damit der Pathologie). Immer wieder wird eine befreiende Einladung ausgesprochen, sich an das Gespräch über Sexualität heranzuwagen. An alle Geschlechter gerichtet, fordert das Buch zu mehr Toleranz auf. Insgesamt großgeschrieben wird die Vielfalt und damit das Recht eines jeden Menschen, eine frei gewählte und selbstbestimmte Sexualität zu leben.
Auch nach vieljähriger Praxis mit Klienten und Klientinnen mit sexuellen oder Paarproblemen war das vorliegende Buch für mich hoch interessanter Lesestoff. Es ist einzigartig auf dem Markt. Als Dänin fühle ich mich außerdem mit Karina Kehlet Lins sehr verbunden in der Art, wie sie über Sexualität denkt und schreibt. Um es mit einer Übung aus dem Buch zu sagen: Sie erhalten einen Gesprächstermin mit einem Therapeuten mit sexologischem Fachwissen geschenkt, und niemand weiß etwas davon. Hätten Sie ein Thema? Wären Sie neugierig? Let’s talk about sex!
Ann-Marlene Henning
Hamburg, im Januar 2020
Vorwort des Herausgebers
In meiner langjährigen paartherapeutischer Praxis habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, schon im ersten Gespräch nach der Sexualität des Paares zu fragen. Diese Frage ist ja nicht nur dafür gedacht herauszufinden, ob und in welcher Weise sexuelle Schwierigkeiten oder Konflikte zu den möglichen Problembereichen in der Paarbeziehung gehören. Sie hilft ganz allgemein zu klären, inwiefern Sexualität überhaupt als spezifische Ressource zur Bewältigung von Beziehungsproblemen in Betracht kommt bzw. ob darin womöglich bislang ungehobene oder vernachlässigte Potenziale für die persönliche Entwicklung der Partner verborgen liegen. Interessanterweise begegne ich immer wieder Paaren, die bereits (mehr oder weniger erfolgreiche) paartherapeutische Vorerfahrungen gemacht haben, aber dabei überhaupt nicht über ihre Sexualität als Paar gesprochen haben. Auf die Frage „Wieso nicht?“ erhalte ich als Antwort des öfteren, dass sie schlicht nicht danach gefragt worden seien – und das Thema von sich aus auch nicht angesprochen haben, weil sie unsicher waren, wie die Therapeuten damit umgehen würden; weil sie unsicher waren, wie man über dieses heikle Thema reden könne; und nicht zuletzt, weil schließlich die Therapeuten am besten wissen müssten, was in der Therapie zur Sprache kommen solle.
Dem entspricht auf der anderen Seite die Erfahrung, dass ich in meiner systemtherapeutischen Supervisions- und Weiterbildungstätigkeit