Mutter aller Schweine. Malu Halasa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Malu Halasa
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906903866
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bis Ahmad auf die Idee kam, die Pelle Türkis zu färben, eine Farbe, die traditionsgemäß den bösen Blick abwehrte. Ab da ging sie wie geschnitten Brot. Der Verarbeitungsblock diente als Denkmal für Abu Satars muntere Maxime, dass »jedes Stück des kleinen Schweinchens seinen Nutzen« habe.

      Mitgerissen vom Enthusiasmus seines Onkels und verführt vom eigenen Umsatz konzentrierte Hussein sich auf den positiven Nutzen und verdrängte seine Zweifel. Der Vorfall am Morgen vor der Moschee hatte jedoch all seine alten Ängste wieder hervorgebracht. Hussein würde es gerne für einen Einzelfall halten, doch offenbar ist die Lage ernster als gedacht.

       4

      Um nicht gegen die Zimmertür zu knallen, greift der kleine Fuad nach der Klinke und zieht sie mit aller Kraft herunter. Die langsame, gleitende Bewegung ist zutiefst befriedigend; es ist der erste Triumph des kleinen Kindes an einem sonst durchschnittlichen Morgen. Zögerlich betritt er das stille Zimmer. Muna, in einem der zwei Einzelbetten, scheint tief zu schlafen.

      Winzige ruckelnde Schritte tragen ihn zu einem geöffneten Koffer vor dem Tischchen zwischen den beiden Betten. Egal wie gering das Hindernis sein mag, für jemanden, der noch an rudimentären motorischen Fähigkeiten feilt, ist das Darübersteigen wie eine Bergwanderung. Neben dem Koffer geht Fuad in die Hocke, dann stürzt er sich ohne weitere Warnung kopfüber hinein. Um den Rest seines Körpers in den Koffer zu ziehen, zerrt er an einem Minirock mit Schottenmuster. Belustigt stützt sich Muna auf die Ellbogen und sieht ihm zu.

      Neugierige Hände durchforsten Knöpfe und Reißverschlüsse. Als er nichts Passendes zum in den Mund Stecken findet, wägt Fuad seine Optionen ab. Er ignoriert den Impuls, an einer Strähne von Samiras langem dunklem Haar zu ziehen, die von einem nahen Kopfkissen hängt, und greift stattdessen ein praktisches Tischbein, um sich aufzurichten. Noch immer ist er nicht groß genug. Was auf der Tischplatte verführerisch glitzert, bringt ein launischer Wischer seiner kleinen Hand in Reichweite. Er lässt sich wieder fallen und macht sich gerade parat, sämtliche Kontaktlinsen-Blister und Familien-Schnappschüsse zu verkosten, als er unerklärlicherweise von seinem Herzenswunsch weggerissen wird. Der Übergriff kommt so rüde und unerwartet, dass er sich nach hinten in Munas Arme fallen lässt und schreit. Je mehr sie ihn beruhigt, umso lauter wird er. Als er sieht, dass Tante Samira wach ist, will er unbedingt zu ihr und brüllt und tritt. Ein gleichgültiges Kopfschütteln von ihr entfacht einen weiteren Ausbruch.

      Das Aroma von Kaffee und Kardamom signalisiert seine nahende Rettung.

      Mutter Fadhma hat Fuad nur für einen Moment allein gelassen. So schnell ihr angeschlagener gesundheitlicher Zustand es zulässt, kommt sie in Samiras Zimmer und stellt ein dampfendes Tablett arabischen Kaffees auf das Tischchen. »Schande über diese Mädchen, dich schlecht zu behandeln«, tadelt sie und nimmt den kleinen Jungen in die Arme. Fuad, sicher bei seiner Dschadda, schluckt tief und lange.

      »Mamma ist sein Liebling«, sagt Samira und gähnt. »Wir anderen haben die Nase voll von Babys.«

      Fadhma setzt sich auf Munas Bett, zieht ein Taschentuch aus der Schürze und wischt Tränen vom fleckigen Kindergesicht.

      »Ich wollte nicht …« Muna ist es unangenehm, aber ihre Großmutter hebt eine Hand.

      »Niemand kann für einen Wutanfall verantwortlich gemacht werden.« Während Fadhma den kleinen Fuad hin- und herwiegt, denkt sie an Munas Vater Abd. Ihre besondere Zuneigung zu ihm fing an, gleich als sie ihn zum ersten Mal sah, Sekunden nach einer schwierigen und frühen Geburt. Fadhma war damals ein Teenager – wohl zehn Jahre jünger als Muna heute. Sie nahm das winzige dunkle Baby aus den Armen ihrer fünfzehnjährigen Schwester Nadschla und verliebte sich. Es war Fadhma, die ihm seinen Spitznamen gab. Aus jedem anderen Mund hätte Abd – »Diener« – abwertend geklungen, doch in jenen wenigen Augenblicken konnte Fadhma in seine Zukunft sehen: Er würde sich in den Dienst der Familie stellen. Ihre eigene konnte sie nicht vorhersehen: Nach dem Tod ihrer Schwester und der Heirat mit Al Dschid würde sie selbst dreizehn Kinder aufziehen.

      Als die untauglichen Spielsachen gerettet sind, der Koffer wieder verschlossen ist und Fuad mit neu gefundenem Enthusiasmus herumkrabbelt, nimmt Mutter Fadhma Munas Fotos aus Amerika und betrachtet sie noch einmal. Sie hat gestern Abend einen kurzen Blick darauf geworfen, aber im harten Morgenlicht erzählen sie eine andere Geschichte. Die Söhne ihrer Schwester dominieren die Bilder genauso wie die Familie. Von Mutter Fadhmas geliebten Töchtern – Magda, Lulwa und Hind – sind keine vernünftigen Aufnahmen dabei, obwohl auch sie in Cleveland leben. Von diesen Frauen, die in den Häusern ihrer Halbbrüder und Ehemänner kochen und putzen, hat die Kamera manchmal eine Schulter erwischt, einen Rücken oder eine Seitenansicht, die mehr Haar als Gesicht zeigt. Ihre vierte Tochter, Katrina, und deren zwei Söhne, Abdul und Scharif, tauchen überhaupt nicht auf: Sie sind zusammen mit Nadschlas Ältestem, Yusef, nach Chile gezogen.

      Die Jungen ihrer Schwester sind in den USA alt geworden. Mutter Fadhma muss zweimal hinsehen, um Faruk in seinem Geschäftsanzug mit Krawatte zu erkennen. Kassim hat gar keine Haare mehr, ist aber immer noch der Komiker, der vor einer seiner Autowerkstätten mit den anderen witzelt. Butros, ein medizinisch-technischer Assistent, macht als Vater von vier Mädchen einen still zufriedenen Eindruck. Abds Teint wirkt durch das graue Haar noch dunkler. Mutter Fadhma fragt sich, ob daran seine Wissenschaftlerkarriere oder seine stürmische Ehe schuld ist.

      Die Männer stehen neben Autos oder in steifen Familiengruppen, oder sie spielen mit ihren Söhnen und Töchtern Ball. Alle wirken selbstgefällig und überfüttert, selbst die Kinder. »Wie gemästete Kälber«, flüstert Mutter Fadhma zu sich selbst. In ihrer Eile, sich zu assimilieren, wirken ihre Stiefenkel in den Cleveland-Cavaliers-Trikots, als hätten sie jegliche Bindung an Jordanien verloren.

      Normalerweise würde die alte Mutter keine Dankbarkeit erwarten. Schon lange ist sie an unbelohnte Arbeit gewöhnt. Sie war diejenige, die sich alles vom Munde abgespart hat; sogar ihr bisschen Goldschmuck hatte sie verkauft, um für die Flüge zu bezahlen. Sie müssen ihr nicht ständig danken, aber sie hätte nichts dagegen, dass man sich ihrer hin und wieder erinnert. Mutter Fadhma merkt, dass Muna sie ansieht. Das Mädchen hat etwas zu einem der Fotos gesagt, doch die alte Frau war viel zu sehr in ihre eigenen Gedanken vertieft und hat nicht zugehört. Ihr wird klar, dass Abds Tochter nichts für das Desinteresse ihres Vaters und ihrer Onkel kann, genauso wenig, wie ihr die Babytränen vorzuwerfen sind. Es ist wirklich an der Zeit, denkt Fadhma, sich von der Last dieses Grolls zu befreien. Seit Munas Ankunft war die Familie durchweg zu beschäftigt mit ihren eigenen Sorgen, als dass sie wirklich gastfreundlich gewesen wäre. Mutter Fadhma beugt sich zu Muna hinüber, wischt den Schlaf aus den ausländischen Augen ihrer Enkeltochter – ihre erste Geste der Vertrautheit gegenüber dem Mädchen – und legt den Bilderstapel zurück auf den Tisch.

      Sie gießt zwei Mokkatässchen arabischen Kaffees ein und sagt Muna und Samira, dass sie schon einmal ohne sie anfangen sollen, dann steht sie unter Schmerzen vom Bett auf und geht langsam aus dem Zimmer.

      Sie kehrt mit einem angeschlagenen Karton zurück und sagt stolz: »Jeder einzelne Brief, den die Familie über die Jahre geschickt hat.« In der Kiste sind Papiere und Briefe mit brauner Schnur zu ordentlichen Päckchen gebunden. Ganz unten liegt ein verblasster taubenblauer Luftpostumschlag, dünn wie eine Zwiebelhaut. Darin stecken übrig gebliebene Passfotos, immer dann aufgenommen, wenn eines von Al Dschids Kindern – die ihrer Schwester und ihre eigenen – das Land verließ. Fadhma möchte, dass ihre Enkeltochter ihre Tanten und Onkel sieht, als sie jung waren und am Anfang des eigenen Erwachsenenlebens standen, voller Hoffnung.

      Auf zwei vergilbten Schnappschüssen erkennt Muna Magda und Lulwa zuerst nicht. »Guckt doch mal!«, ruft sie dann, etwas ratlos. Die beiden übergewichtigen Frauen mittleren Alters in Ohio haben wenig Ähnlichkeit mit diesen schlanken Mädchen mit Rougewangen. Das nächste Foto ist leichter zu erkennen: »Das ist Hind«, ruft Muna. Sie kennt Mutter Fadhmas zweitjüngste Tochter gut. Mit sechzehn wurde Hind zu Munas Familie nach Cleveland geschickt. Sie war nur zwei Jahre älter als Muna. Es dauerte eine Weile, doch schließlich wurden die beiden Mädchen enge Freundinnen. Fadhma weiß das aus Hinds Briefen nach Hause. Sie fragt sich, ob Muna Hinds Einschätzung zustimmen würde, dass Abd und