Sobald ihr Bruder und seine Familie außer Sichtweite waren, richtete sie ihr Kopftuch und kletterte kurzerhand aus einem Hinterfenster. Der Pfad vor ihr führte aus dem Dorf hinaus, hinein in eine ununterbrochene hügelige Weite voller Gestein und Sand. Am Horizont schwoll der Himmel an wie ein tintig blaugraues Hämatom. Ein Sturm näherte sich rasch. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin sie ging, noch kümmerte es sie. Zum ersten Mal war sie vollkommen allein in der Welt, verantwortlich für sich selbst.
Ein sintflutartiger Regen setzte ein. Die sofortige Bedrohung durch Blitzüberschwemmungen ließ sie schneller gehen. Als sie durch eine Lücke zwischen ein paar Felsbrocken schlüpfte, wäre sie fast gegen ein schwarzes beit al-sha’r gelaufen, ein aus Tierhaar gewebtes Beduinenzelt. Nicht gewillt, denselben Weg zurückzugehen, sich aber auch des Weges nach vorne unsicher, blieb sie neben einem feuchten, qualmenden Lagerfeuer stehen, bis auf die Haut durchnässt, frierend und keuchend.
Fadhma kannte die alten Geschichten. An manche Orte ging man nicht, an manche Menschen trat man nie heran. Bestimmte Frauen verfügten über genügend Macht, um ein ganzes Leben zu verfluchen und es in unfruchtbare Einsamkeit zu verwandeln. Fadhma machte sich keine großen Gedanken darum, weshalb sie noch nicht verheiratet war, wenngleich ihre Schwägerin sie in einem fort warnte, nicht auf der verkehrten Seite des Bettes zu schlafen oder im Licht des Vollmondes. Fadhma wusste, dass raue Gesichtszüge bei einem Mann ganz anders aussahen als bei einer Frau, lehnte Aberglauben ab und glaubte lieber, dass es Gottes Wille war, dem sie nur gehorchen konnte. Der Sturm erreichte seinen Höhepunkt. Die Regentropfen, jeder von der Größe und dem Gewicht eines kleinen Steines, waren eine physikalische Kraft, die sie weiter antrieben.
Verstohlen schaute Fadhma in das Zelt und sah, als sie sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte, ein Zuhause ganz wie im Dorf, mit Kissen, Wasserkrügen, einer Truhe und einem Gewehr. Sie hatte Gerüchte gehört über die Wahrsagerinnenschwestern, die hier lebten. Sie erledigten die Jobs, an die sich sonst niemand traute: Abtreibungen, Exorzismen und Séancen. Sie konnten das Unsichtbare sichtbar machen und die Gegenwart verändern. Unter ihrer Anleitung konnte ein Mädchen mit Erfahrung in der Hochzeitsnacht bluten wie eine Jungfrau oder eine alte Frau eine Vagina bekommen, die fleischig war wie eine überreife Feige. Für die beiden Schwestern, die völlig außerhalb der Gesellschaft lebten, war Fadhma nur ein weiteres albernes Dorfmädchen, das Glück nicht von Pech unterscheiden konnte.
Fadhma ging in das Zelt und erwartete, dass jemand erscheinen müsse. Als niemand auftauchte, setzte sie sich, spähte in die dunklen Ecken und platzte schließlich mit ihren innersten Ängsten heraus: »Ich soll einen Mann heiraten, der gut sein soll. Aber meine Schwester, seine erste Ehefrau, liegt schon in ihrem Grab. Sollte ich nicht lieber bleiben, wo ich bin?«
Auf dem Teppich neben sich schob sie Steinchen und Knöchelchen zu einem kleinen Haufen zusammen, untersuchte jedes genau, fuhr mit den Fingern über die schartigen Oberflächen und spürte ihr Gewicht und ihre Formen. Dann schüttelte Fadhma sie wie Würfel und warf. Klappernd fielen sie zu Boden, hörbar gegen den Lärm des Windes und Regens vor dem Zelt.
Aus einem Winkel betrachtet schienen die Steinchen und Knochen ein Fragezeichen zu bilden, aus einem anderen einen gestrichelten Gebirgszug in der Gestalt einer hochschwangeren Frau. Es war nicht die Antwort, die Fadhma erwartet hätte, aber es war die, die sie verdiente. Als sie aus dem Fenster geklettert war, war die Entscheidung gefallen. Sie würde zu ihm gehen, weil sie es wollte, und ihn verlassen, falls die Dinge eine schlechte Wendung nehmen sollten, ein Akt, der die unwiderrufliche Entehrung ihrer Familie und mit Sicherheit ihren eigenen Tod bewirken würde. Zumindest würde sie vielleicht ein Leben leben, das wirklich ihr eigenes wäre, und jegliche Macht, die sie darüber hätte, würde besser sein als das ihr aufgezwungene Dasein. Fadhma staunte, wie Angelegenheiten des Herzens innerhalb eines Augenblickes entschieden werden konnten.
Nach einer kleinen Familienfeier und einer priesterlichen Segnung in der Kirche des Mosaiks zog Fadhma mit ihrer einen Kiste Hab und Gut aus Abu Satars Haus aus und in Al Dschids krumme Lehmziegelhütte ein. Um die sechs Söhne ihrer Schwester kümmerte sie sich aus Pflichtgefühl. Den Mysterien der Sexualität begegnete sie mit derselben Geisteshaltung. Als sie ihren Ehemann zum ersten Mal nackt sah, sagte sie, er erinnere sie an einen stolzierenden Hahn, und Al Dschid gefiel ihre Unerfahrenheit. Sie hatte keinen Begriff von Vergnügen, aber sie war nicht zu alt zum Lernen. Spätabends, wenn sie nebeneinander lagen, fragte sie sich, ob auch Nadschla so völlige Freude erlebt hatte.
Sie besaßen nicht viel, doch Fadhma fühlte sich begehrt und benötigt. Aber ein Aspekt am Verhalten ihres Ehemanns verblüffte sie. Er war am stolzesten und aufmerksamsten, wenn sie der Frau in der Form des Gebirgszuges glich – immer schwanger. Bald hatte sie sich um ihre eigenen sieben Kinder zu kümmern, zusätzlich zu den sechs Söhnen ihrer Schwester. Nach der Geburt so vieler Kinder schien es seltsam, dass die Leute aus dem Dorf mehr von Al Dschids Zeit in Anspruch nahmen als seine eigene wachsende Familie.
Kam jemand an die Tür – egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit –, stand er zu Diensten und erwartete von seiner Frau dieselbe Aufmerksamkeit. Nach der Leere ihres Lebens im Haus ihres Bruders war der unablässige Strom an Besuchern anfangs anstrengend. Unaufhörlich musste sie bereitstehen, um Tee zu machen. So hielt sie ihr Kopftuch stets parat und die Wasserkrüge gefüllt. Die Leute schienen immer dann vorbeizukommen, wenn die Familie gerade essen wollte, was hieß, dass ihr Ehemann und die männlichen Gäste zuerst aßen. Sie und die Kinder begnügten sich mit den Resten, in der Regel nicht viel. Die Jahre des Hungers hinterließen Spuren. Die Söhne ihrer Schwester stritten sich um das bisschen, das da war, und der Konflikt säte eine Zwietracht, die Wurzeln schlug und heranwuchs zu einem dichten Dornengestrüpp um jedes ihrer Herzen.
Ob es darum ging, eine Verbindlichkeit abzugelten oder eine künftige Gefälligkeit zu sichern, Al Dschid wurde häufig von anderen Dorfbewohnern in deren Häuser eingeladen, wo ihm nur das Beste vom Besten aufgetischt wurde. Bis spät in den Abend hinein erzählte er dann Geschichten oder Neuigkeiten, von denen er auf seinen Marktgängen erfahren hatte. Fadhma wusste nie, wo er war oder wann er nach Hause kommen würde. Ihr einziger Hinweis auf seinen Aufenthaltsort war, wenn eine Nachbarin erzählte, sie habe ihre Stiefsöhne vor einem Fenster anderer Leute sitzen sehen. Nur wenn die Jungen so den Geschichten ihres Vaters lauschten, stritten sie ausnahmsweise nicht.
»Arbeite hart, und du dienst Gott und dir selbst«, belehrte Al Dschid seine Familie. Meistens arbeitete Fadhma für Arme, Menschen wie sie selbst. Sie kochte Meramije, das bittere Salbeiheilmittel gegen Ruhr und Nachtschweiß; bereitete Isbet il-Gizha zu, ein Beduinenrezept mit Honig; oder verabreichte Habat al-Baraka, den gesegneten Schwarzkümmelsamen des Propheten, dafür bekannt, gegen gebrochene Herzen und Kehlkopfentzündung zu helfen. Am begehrtesten war jedoch die namensgebende getrocknete Kräutermischung der Familie. Der gesundheitliche Nutzen ihres Satars war unermesslich: Es wirkte gegen Keuchhusten und Menstruationsbeschwerden, stimulierte das Erinnerungsvermögen und regte das Gehirn an. Vor allem roch und schmeckte es nach Heimat. Dieses einfachste aller Essen wurde mit Olivenöl vermischt, auf Brot gestrichen oder damit gebacken oder als Würzsauce verwendet. Selbst wenn der Boden karg war, brachte er mit wenig Wasser doch aromatisches Gestrüpp und Gesträuch hervor, ein Zeichen der Natur, dass sie die Menschen nicht völlig vergessen hatte, noch nicht. Mit den spärlichen Mitteln der Familie, und ohne sich zu beschweren, bediente Fadhma ihren Gatten und die vielen Besucher, die seinen Rat einholten. Gleichzeitig begann sie, ein eigenes unabhängiges Netzwerk aufzubauen. Die benachbarten muslimischen Haushalte, wo Ehefrauen und Weibsvolk normalerweise nicht unbegleitet das Haus verlassen durften, besuchte Fadhma unangemeldet und wurde stets willkommen geheißen.
Fadhma konnte nicht umhin, die Großmut und hohen moralischen Ansprüche ihres Ehemanns mit denen ihres skrupellosen Bruders zu vergleichen. Abu Satar war ein Mann, der von der Verzweiflung anderer Menschen profitierte. Er lebte von Krieg und Korruption. Sein wachsender Wohlstand ließ ihn launenhaft und liederlich werden. In einer Woche sammelte er Kuckucksuhren, in der nächsten billige Taschenrechner und breite weiße Schlipse. Seine Deals und seine Zockerei akzeptierte Fadhma widerwillig, aber er hatte einen